Neuland

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Ihre Akte, bei der Dr. Arkham so umsichtig gewesen war, sie eigens für sie anfertigen zu lassen, hatte sie unter ihrem Arm geklemmt. In ihren Händen befanden sich zwei Becher, in denen eine dampfende Flüssigkeit leicht hin und her schwappte. Ihr Blindenstock befand sich zusammengefaltet in der Innenseite ihres Kittels. Ihres außerordentlich guten Orientierungssinns, hatte sie es zu verdanken, dass sie ihn innerhalb des Gebäudes nicht unentwegt benötigte. Sie war froh darüber, denn obwohl sie die Tatsache, dass er ihr ständiger Begleiter war akzeptiert hatte, konnte er zuweilen sehr umständlich sein. Zum Beispiel dann, wenn man nicht genügend freie Hände hatte, um all die Dinge balancieren zu können, die man eben benötigte.

Aber die Getränke überlebten die holprige Fahrt und kamen unversehrt vor dem kleinen Therapieraum an. Der Wachmann, der die junge Frau schon von weitem erkannte, grüßte sie höflich und öffnete die Tür, damit sie den Raum betreten konnte.
,,Es tut mir Leid'', entschuldigte sie sich augenblicklich, bevor sie die Becher auf den Tisch stellte. ,,Aber die Schlange in der Cafeteria war so voll, da bin ich zu einem kleinen Cafe gleich um die Ecke gelaufen. Das hat natürlich noch länger gedauert, aber dafür ist das Angebot dort auch um einiges besser. Ich konnte Ihrer Akte entnehmen, dass Sie eine Vorliebe für allerlei Naschwerk haben, also war ich so frei Ihnen einen Kakao mitzubringen und wenn Sie möchten'', sagte Alice und holte eine braune kleine Tüte, die sie in ihrer Innentasche versteckt hatte hervor. ,,Hätte ich auch noch einen Blaubeermuffin für Sie.''

Eddie Nashton aka Edward Nigma ließ seinen Blick, einige Sekunden lang, zwischen dem ihm angebotenen Gebäck und der jungen Frau hin und her wandern. Er war misstrauisch und das nicht ohne Grund. Wie häufig mischten manche der Ärzte irgendwelche Medikamente in die Mahlzeiten. Nur um zu testen, wie ihre Patienten auf die Nebenwirkungen reagierten. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte die junge Ärztin lächelnd:
,,Keine Sorge, es ist nichts davon präpariert. Der Muffin besteht nur aus Teig, Heidelbeeren und höchstwahrscheinlich viel zu viel Zucker.''
Um ihre Aussage zu untermauern, brach sie ein Stück des lockeren Teiges ab und ließ es ihn ihrem Mund verwinden.
,,Sehen Sie'', meinte sie kauend. ,,Jetzt habe ich meine Manieren vergessen und Sie wissen, dass ich die Wahrheit gesagt habe.''
Noch immer ein wenig zögerlich nahm er die Sachen entgegen; sich bei ihr bedanken, tat er natürlich nicht.

Erst wenn man am eigenen Leib die Eintönigkeit und Lieblosigkeit erlebt hatte, mit denen die Mahlzeiten in der Anstalt zubereitete wurden, wird man verstehen können, was Eddie nun empfand, als er in den kleinen Kuchen hineinbiss.
So traurig es war: es kam einer Geschmacksexplosion gleich. Der Muffin war süß und klebrig, aber das auf die beste Art und Weise und der Kakao, der war noch besser. So perfekt, dass er ihn trotz seiner hohen Temperatur beinahe in einem Zug leerte.
,,Ich gehe davon aus, dass ich die richtige Wahl getroffen habe'', interpretierte Alice die leisen Schluck- und Kaugeräusche, die sie vernahm. Sie erhielt keine Antwort. Nicht weil er sie in diesem Moment unbedingt vor den Kopf stoßen wollte, sondern weil er nicht wirklich wusste, was er von ihr und ihrem Verhalten denken sollte - wirkliches Neuland für den Riddler.

,,Warum tun Sie das?,'' fragte er schließlich.
Neugierde schimmerte durch seine Worte.
,,Weil ich es wollte.''
,,Weil Sie es wollten'', wiederholte er und zog die Stirn in Falten. ,,Aber warum wollten Sie es?'', fragte er irritiert, denn er benötigte eine logische Antwort, eine die er auch verstehen konnte.
Alice strich eine ihrer dunklen Locken hinters Ohr und erklärte ihm, so gut sie konnte: ,,Ich denke, wenn Sie nun eine klare rationale Antwort erwarten, muss ich sie leider enttäuschen. Ich habe mich einfach auf mein Bauchgefühl verlassen. Ich dachte mir, dass Sie sich vielleicht darüber freuen würden, also habe ich es einfach getan. Ohne einen bestimmten Grund.''
Nigma stieß die Luft durch seine Nasenflügel aus. Jetzt war er auch nicht viel schlauer, als vorher.
,,Vielleicht'', versuchte er selbst eine Erklärung zu finden. ,,Liegt es unter anderem daran, dass Sie blind sind. Es gibt viele wissenschaftliche Meinungen zu diesem Thema. In vielen von ihnen wird ein Zusammenhang zwischen Blindheit und ihrer Auswirkung auf den menschlichen Organismus diskutiert. Viele Sinneswahrnehmungen sollen sich durch dieses Kondition intensivieren. Im Allgemeinen wird oft von einer Steigerung der Empathie gesprochen.''
Es wäre töricht gewesen, zu glauben, dass Edward Nigma, die außergewöhnliche Färbung ihrer Pupillen entgangen wäre. Seine Stimme war weitestgehend neutral geblieben. Eitelkeit hatte sie erkannt, aber keinen Hohn. Er schien tatsächlich einfach nur nach der Logik hinter ihrem Verhalten zu suchen. Was ein sehr schwieriges Unterfangen darstellte, da sie sich selten von der Vernunft leiten ließ. Sie vertraute meistens auf ihr Gefühl und bis jetzt, hatte sich diese Vorgehensweise, als richtig erwiesen.
,,Ich denke damit könnten Sie richtig liegen'', erwiderte Alice lächelnd.
,,Es gibt viele Dinge, die ich, ich denke vor allem dadurch wahrnehmen kann, da ich blind bin'', stimmte sie zu, nahm ihr Diktiergerät aus der Tasche und legte es auf den Tisch.
,,Aber heute sollte es eigentlich nicht um mich gehen. Ich hatte vielmehr gehofft, dass wir ein wenig über Sie sprechen könnten. Wären Sie dazu bereit?''
Nygma fuhr sich mit seinen Fingern nachdenklich über seine Kinnpartie, während er die junge Frau eindringlich musterte.
Er musste zugeben, dass sie höflich war, nett, und außerordentlich hübsch.
Aber war sie auch klug?
,,Ich denke, ich könnte es in Erwägung ziehen, wenn Sie ein kleines Rätsel für mich lösen würden'', forderte er sie heraus und begann sogleich:
,,Sie befinden sich in einem Raum mit drei Türen. Davor steht ein Wächter der Ihnen sagt, dass eine der drei Türen in die Freiheit führt, die beiden anderen in ihren Tod. Außerdem sagt er Ihnen, dass Sie ihm drei Fragen stellen können, die er mit Ja oder Nein beantworten wird. Aber seien Sie gewarnt, denn er wird nur einmal die Wahrheit sagen, die anderen Male wird er lügen. Und nun kommt die entscheidende Frage: Welche Fragen müssen Sie ihm stellen, um zu überleben?''
Eddie lehnte sich siegessicher in seinem Metallstuhl zurück, überzeugt davon, dass sie scheitern würde. Doch nach kurzer Überlegung antwortete sie:
,,Ich denke es gibt verschiedene Lösungsmöglichkeiten, um an das richtige Ziel zu kommen. Doch die simpelste von ihnen wäre es, dem Wächter zunächst eine Frage zu stellen von der ich die Wahrheit bereits kenne. Zum Beispiel: Ist die Sonne ein Stern? Würde er diese Frage bejahen, dann wüsste ich, dass die restlichen zwei Antworten gelogen wären. Also könnte ich umgehend nach einer der anderen Türen fragen und wäre gerettet.''
,,Touché'', flüsterte Nigma. ,,Touché.''

                                                                          ~~~*~~~


,,Und'', wollte Dr. Miller wissen, der Alice noch am Ausgang erwischt hatte.
,,Wie war dein Tag? Ist alles gut gelaufen? Wie war Eddie? Hat er dich ordentlich an der Nase herum geführt? Der und seine Rätsel, der treibt damit noch die ganze Belegschaft in den Wahnsinn.''
Er hielt ihr die Tür auf, als beide wieder in die wolkenverhangene Realität hinaustraten. Manchmal gab es Tage, an denen hatte man das Gefühl, dass wenn man durch die große gläserne Tür des Gebäudes schritt, den Kaninchenbau betrat und im Wunderland gelandet war. So unwirklich erschien manchmal die Arbeit mit den Patienten. Manchmal vergaß man, was sie waren. Manchmal, vergaß man, wer man selbst war.
Manchmal, verlor man sich in diesem Irrgarten aus Verrückten und Mördern.

,,Es lief eigentlich ziemlich gut'', erwiderte sie lächelnd. ,,Ich hatte keine großen Probleme. Er war sehr kooperativ, aber das könnte auch daran liegen, dass ich sein Rätsel lösen konnte.''
Sam blieb kurz wie angewurzelt stehen, doch dann setzten sich seine Beine wieder in Bewegung.
,,Wie du hast sein Rätsel gelöst? Erzähl!''
Alice ließ ein glockenklares Lachen erklingen.
,,Ich denke da müsstest du Eddie selbst fragen.''
,,Ein Wunder, dass er überhaupt mit dir gesprochen hat'', grummelte der Doktor vor sich hin. ,,Du bist viel zu aufmüpfig und frech. Ich hätte dich einfach ignoriert!''
Wieder lachte Alice auf.
,,Und ich denke, dass das genau das ist, was du so sehr an mir schätzt.''
,,Ja, ja, mag sein...meine Güte, jetzt sag schon, lass mich doch nicht so ahnungslos den Rest meines Lebens verbringen.''
,,Schon gut, schon gut'', sagte sie kichernd und begann zu erzählen.

DämmerungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt