Mathildas Weihnachtsgeschichte

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Hier beginnt sie also, unsere Geschichte. An irgendeinem Tag, in irgendeinem Jahr, auf einer wunderschönen, sonnigen Wiese.Genau hier findet gerade ein wahres Wunder der Natur statt.Ein kleines Wesen scheint bereit zu sein, das erste Mal das Licht der Welt zu erblicken.Wenn ihr ganz nah ran geht, würde auch ein Mensch wie ihr das klitzekleine Ei auf dem frischgrünen Blatt der stechenden Pflanze erkennen.Es mag für euch Menschen aussehen, wie ein mikroskopisch winziger Hybrid aus einer Stachelbeere und einem Kugelkaktus. Aber in dieser kleinen grünen Hülle haust bereits eine wehrlose, kleine Kreatur.


Nun pulsiert, dellt und beult die Schale sich ein. Welch' Lebenskraft!Im nächsten Moment hält das Ei dem Druck nicht mehr stand und gibt nach.Na, wer schaut denn da heraus? Zwei große Facettenaugen blicken sich neugierig in allen Richtungen um und schwupps – kriecht das ganze haarige Etwas noch etwas unbeholfen aus seiner schützenden Barriere.Und um sie besser verfolgen zu können, nennen wir die kleine ab hier Mathilda.Der Name steht für Kraft. Von dieser scheint sie nicht zu wenig übrig zu haben!Ganz erstaunt schaut sie sich weiterhin um und nimmt ihre nahe Umgebung komplett unter die Lupe. Nach gar nicht allzu langer Zeit, fängt ihr Körper an, ihr Signale zu schicken. Sie soll etwas essen! Und das lässt sie sich nicht zwei Mal sagen: Innerhalb von kurzer Zeit ist der Großteil von dem, was mal ihre sichere Schutzhülle war, verschwunden. Und auch das Blatt, welches ihre Mutter sorgfältig aussuchte, hat nun ein paar Löcher mehr als zuvor.


Und so geht es weiter. Und weiter. Und weiter... Tage vergehen.Bis sie schließlich instinktiv anfängt, es sich an einem schön gesponnenen Faden, den sie bombenfest an einem Blatt befestigt, gemütlich zu machen. Nun beginnt sie endlich, ein letztes Mal ihre Haut abzuwerfen und fällt in eine Art Trance.Doch stören wir sie lieber nicht in diesem Entwicklungsstadium.Schauen wir direkt, was zwei Wochen danach geschieht.Unter dem harten Kokon ist etwas herangewachsen was sich endlich anfängt zu bewegen! Die harte Schale bricht und eine wahre Schönheit steigt aus der ehemaligen Hülle empor. Sie reckt sich und streckt sich erst einmal, um dann voller Stolz ihre wunderschönen Braun-Orangen Flügel auszubreiten.


So ein prächtiger Anblick, diese holde junge Dame dort sitzen zu sehen.Doch, wer fliegt denn da herbei?Mathilda, die Kämpferin, sieht durch die warmen, wunderbaren Sonnenstrahlen über sich ein Ebenbild von ihr herbeiflattern. Das Ebenbild fliegt immer und immer und macht es sich direkt neben ihr auf einem Blatt gemütlich."Hallo, mein Kind.", schallt es Mathilda durch den Kopf. Überrascht zuckt sie zusammen. "Erschrecke nicht! Ich bin den Weg zurückgekommen, um dir deinen Weg zu bahnen." Misstrauisch, aber neugierig beäugte Mathilda ihre wunderschöne Artgenossin und scheinbar Mutter. "Du solltest wissen, mein Kind, wir sind irgendwie anders als andere Schmetterlinge. Generationen unserer Art tragen diese Weisheit nun von Mutter zu Nachwuchs. Kind, wir altern langsamer als andere. Wir müssen uns viel Wissen selber aneignen und können nicht rein aus Instinkt handeln. Wieso wir so sind wie wir sind, ist ein großes Rätsel." Mathilda versteht nur Bahnhof. Instinkt? Wissen? Was ist das alles? "Die wichtigste Weisheit, welche ich an dich weitertragen möchte, ist dass du dein Leben genießt! Schau dir an, was du sehen möchtest. Fürchte dich nicht vor Menschen! Sie finden uns wunderschön und tun uns nichts zuleide.


Wenn die kalten weißen Flocken durch kalten Wind getragen werden und die Menschen bunte Lichter aufhängen, dann bereite dich auf das Ende vor, Kind. Unser Leben ist nicht lang, deshalb koste es aus! Soweit du kannst!Vielleicht magst du noch nicht alles verstanden haben, aber das wirst du früher oder später, Kind. Nun, das war die Weisheit, die es zu teilen gilt. Merke sie dir gut, Mädchen! Und gib sie ebenfalls an deine Kinder weiter!Leb wohl."


Und damit hebt sich diese Schönheit wieder in die Lüfte und zieht von dannen. Mathilda scheint offensichtlich verwirrt von den ganzen neuen Informationen zu sein. Aber sie verspricht sich selbst, dass sie all dies befolgen würde! Ihre Flügel haben endlich ihre volle Pracht erreicht und sind bereit, für den ersten großen Ausflug in die Lüfte.Noch weiß sie nicht, was alles in dieser großen Welt auf sie zukommen würde. Aber langweilig würde ihr kurzes Leben auf keinen Fall werden!Ohne wirklich viel von dem zu verstehen was ihre Mutter ihr mit auf den Weg gab, tat sie exakt das, was von ihr erwartet wurde.Im Frühsommer verbrachte sie viel Zeit damit, die Wiesen zu erkunden. Es gab viele Blüten zu erforschen und auswendig zu lernen. Sie tanzte von Gänseblümchen, zu Huflattich, hinüber zur Sumpfdotterblume und zum Schluss wieder auf ihre geliebte, zart-violette Distel. Doch auch wenn diese bunten Frühjahrswiesen wunderschön waren, wollte sie so gerne einmal die Menschensiedlungen besuchen. Gerade als sie an einem wunderschönen Frühlingsabend verträumt in den Sonnenuntergang blickte, nahm sie sich dieses Erlebnis fest für den nächsten Tag vor. Zufrieden und aufgeregt faltete Mathilda auf ihrer Lieblingsdistel ihre zauberhaften Flügel und schlief voller Vorfreude ein. Als die Sonne ihre ersten wärmenden Strahlen über die Wiese schickte, wachte auch Mathilda langsam auf. Heute war der Tag! Der Tag an dem sie sich endlich ihren Traum erfüllen konnte. Was sie nicht erwartete, dass der Traum eher zu ihr kam als dass sie dem Traum näher kam. Zahlreiche Menschenkinder weckten Mathilda schneller auf als ihr lieb war! Sie schauten sich neugierig überall auf der schönen Wiese um und schienen etwas zu suchen. Da! Ihnen folgten auch große, erwachsene Menschen.

Ein Wandlermärchen - Mathildas WeihnachtsgeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt