Seele.

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Sie spürte den leichten, kühlen Abendwind der auf angenehme Weise durch ihre Haare strich. Die Erde des kleinen Hügels auf dem sie saß war vom Sommertag noch angewärmt und die langen, trockenen Grashalme kitzelten ihre Fingerspitzen. Die Sonne hatte sich schon verabschiedet, bloß der noch leuchtende Horizont und die rosafarbenen Wolken erzählten von ihrem Besuch in Alunas kleinem Dorf. Von ihrem Hügel aus hatte sie einen schönen, weitreichenden Blick über die Häuser und Felder ihres Heimatdorfes, wo die Menschen sich langsam zum Zubettgehen fertig machten und ihren Kindern zum Einschlafen noch etwas vorsangen oder ihnen Geschichten von den zauberhaftesten Fabelwesen vorlasen, die sie mit in ihre Träume nahmen. Die Straßenlaternen waren angegangen und erleuchteten die mittlerweile düsteren Straßen. Hinter den Fenstern der Häuser glommen kleine Lichter auf. Manche gelb und weich, die anderen weiß und grell und einige blau vom Licht des Fernsehers, wo die neuesten schlimmen Nachrichten zu sehen waren. Jeder Mensch hinter diesen Fenstern hatte seine eigene Geschichte, seine eigenen Sorgen und Probleme. Jeder von ihnen hatte mit etwas zu kämpfen. Gingen alle Menschen jetzt zu Bett oder sahen sich aufder Couch gemütlich Filme an oder gab es in diesem Dorf noch andere Menschen wie sie, die einfach nicht schlafen konnten? Menschen, die einfach keine Ruhe fanden? Wenn sie so das große Ganze betrachtete, wurden ihre Probleme plötzlich unglaublich klein und nichtig. Im Verhältnis zu diesem ganzen Dorf voller Sorgen und Probleme, einem ganzen Land, der gesamten Welt voller Hungersnöte und Naturkatastrophen. So vielen Menschen, denen es tausendmal schlechter ging als ihr. Doch das machte ihren Schmerz nicht weniger stark. Es gab keinen Wettbewerb darum, wem es schlechter ging und wer deshalb trauriger sein durfte. Selbst die kleinsten Dinge verursachten Schmerz und das war okay. Und doch beschäftigte es sie, dass sie in diesem großen Universum so klein und unscheinbar war. In dem einen Moment existierte sie noch und in dem anderen war es als wäre sie nie dagewesen. Das Lebe war kurz. Gab es einen Sinn hinter dem Ganzen? Alle waren auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, aber gab es überhaupt einen? Vielleicht war das Alles bloß vollkommen willkürlich. In einem Moment waren sie auf der Erde, im anderen nicht mehr und ganzegal wie viel man getan hatte, wie viel Geld gescheffelt oder Leben gerettet, im Verhältnis zum Universum dauert dein Leben bloß eine Millisekunde und ist nicht mehr als ein Wimpernschlag. Aber man sollte doch trotzdem auf jeden Fall versuchen, so viel Gutes zu bewirken wie es geht, oder? Diese Millisekunde ausnutzen und ihr dadurch einen Sinn geben. Die Welt erforschen, sich selbst erforschen und alles hinterfragen. Wie gerne würde sie jetzt mit jemandem über diese Gedanken, die ihr durch den Kopf schossen, philosophieren. Mit ihrer Grandma hatte sie immer sehr viel über solche Themen geredet, über Gott und die Welt diskutiert und jede These und Verschwörungstheorie auseinandergenommen und analysiert. Alunas Blick schweifte über das ruhende Dorf, bis er an einem kleinem Haus etwas außerhalb hängen blieb. Es war ein sehr typisches Haus für alte Leute, mit Spitzenvorhängen und Gartenzwergen im Vorgarten. Wie sehr siesich jetzt wünschte, einfach den kleinen Pfad zum Haus ihrer Großeltern lang zu laufen, zu klingeln und die Tür geöffnet zu bekommen. Aluna ließ sich vollkommen in ihre Wunschvorstellung hineingleiten, sie versuchte nicht mehr, den Gedanken daran zu vermeiden.

Neben der Klingel war ein kleines Messingschild angebracht. „Alma und Jan Winter", stand darauf. Alma bedeutete Seele. Auch über Namen hatten sie immer viel nachgedacht und ihre Herkunft erforscht, aber auch auf ihren Klang gehört und überlegt, woran er sie erinnerte. Aluna stand für Treue, aber bedeutete auch Mond. Alma hatte immer gesagt, dass Alunas Name geheimnisvoll klang, nach einer klaren Sternennacht roch und nach Himbeertorte schmeckte. Sie fand das sehr schön.Aluna hatte es so sehr geliebt, mit ihrer Großmutter über alles zu philosophieren, jeden Gedanken auszusprechen und weiterzuverfolgen und das Leben und dessen Sinn zu erforschen. Durch sie war Alunas Kindheit durchflutet gewesen von Freude und Licht. Wenn sie ihr vorlas, hatte sie nicht nur die zauberhaftesten Bilder In ihrem Kopf zum Leben erweckt, nein, auch das Flügelschlagen der Elfen, das Getrappel der Hufe, die Motorengeräusche auf der Rennbahn konnte sie hören. In der Nase hatte sie den Geruch von Frühling und auf der Zunge den Geschmack von Vanilleeis. Mit ihr war sie in die tollsten Welten aus der kalten Realität geflohen. Aluna drückte den Klingelknopf. Schon nach kurzem Warten konnte sie hinter der dunklen Ebenholztür Schritte und das Geräusch einer herunter gedrückten Türklinke hören. Knarzend öffnete sich die Tür.

Aluna öffnete die Augen und kehrte zurück in die Realität, auf den Hügel am Stadtrand. Sie hatte etwas gespürt. Es kam nicht von außen. Es war eher wie ein kleiner Weckruf von innen, ein kurzer Adrenalinkick. Dann war er wieder weg. Aluna sah sich um. Mittlerweile war es richtig dunkel geworden und am Himmel leuchteten jetzt tausend Sterne. Der volle Mond erhellte mit seinem silbrigen Leuchten die Dunkelheit. Plötzlich meinte sie eine Stimme zu hören, wie ein lauter Gedanke, der aber nicht von ihr selbst kam. „Ich werd verrückt", dachte sie. „Lass mich los", sagte die Stimme sanft. Aluna kannte sie. „Lass mich gehen. Es ist okay." Sie sah sich um, war da jemand? Ja, dahinten aus dem Schatten löste sich eine Gestalt, aber Aluna hatte keine Angst. Trotzdem klopfte ihr Herz bis zum Hals, als die Gestalt näher kam. „Grandma?", fragte sie leise. Alma lächelte. Es war ihre Grandma, aber irgendwie auch nicht. Es war eher wie eine Erscheinung in einem Traum, bloß dass Aluna wach war. Sie wusste es, weil sie jedes Mal ein bisschen zitterte wenn der kalte Nachtwind über die Hügel strich und die kleinen feinen Härchen auf ihren Armen und im Nacken aufstellen ließ. „Lass mich gehen. Halt mich nicht so verzweifelt im Leben, Aluna. Lass los. Du musst mich ja nicht vergessen. Und solange du das nicht tust, werde ich immer bei dir sein. Aber du musst mich gehen lassen." Aluna rollte ein Träne über die Wange und landete auf ihrer Jeans. Alma setzte sich neben sie. „Hör nie damit auf, die Welt zu erforschen, Aluna. Hör nie auf, zu hinterfragen und bleib immer neugierig. Und bewahre dir deine Fantasie, sie ist ein wundervolles Geschenk!", Alma sah ihre Enkelin ernst an. „Ich werde auch weiter erforschen und wenn es ein Leben nach dem Tod gibt, es so richtig auf den Kopf stellen, das verspreche ich dir", lachte sie. Aluna lachte zurück, während ihr Tränen über das ganze Gesicht liefen. „Das ist super, lass es raus. Lass die Trauer zu, akzeptiere sie. Es ist in Ordnung!" Ihre Stimme hallte in Alunas Kopf. „Wirst du mich gehen lassen?", fragte Alma. Aluna nickte. „Ich werde dich nicht allein lassen, keine Sorge. Solange du immer an mich zurückdenken kannst, mit Freude im Herzen, werde ich dich nie verlassen!". "Okay", krächzte Aluna, mehr brachte sie nicht zustande. "Okay", sagte auch Alma lächelnd, bevor sie ging und im Schatten verschwand. Die Sterne begleiteten sie.

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