Kapitel 10

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Wincent

So oder so ähnlich sahen fast alle meine Termine in den folgenden Wochen aus. Ich antwortete immer das gleiche, weil Amelie meinte, alles andere wäre auffällig. Also erzählte ich jeden zweiten Tag, wie toll Emma war. Es frass mich fast auf. Und dann musste ich auch noch jeden Abend alleine in meinem Hotelbett liegen ohne irgendeine Ansprache zu haben. Ein Glück war die Minibar jedes Mal gut gefüllt und brachte mich so in den Schlaf. Ich merkte selbst, dass diese letzten Wochen Spuren hinterlassen hatten, und langsam aber sicher kriegte ich die immer schlechter versteckt. Meine Augenringe, die viel zu lang gewordenen Haare und die wenige Zeit für Sport konnte ich ja noch mit meiner vielen Arbeit im Moment rechtfertigen, aber langsam würde ich auch unkonzentriert, vergesslich und abwesend, wenn ich (zu) nüchtern war. Und das in meinem Job. Diverse Gespräche hatte ich schon mit Amelie deswegen geführt, aber sie kaufte mir bisher immer ab, dass ich wegen dem Stress schlecht schlief und deswegen einfach übermüdet war. Ich brauchte dringend was, um die beginnenden Entzugserscheinungen zu kompensieren. Oder ein alternatives Hilfsmittel, um besser schlafen zu können. Um meine schlechten Gedanken zu vergessen. 

Als ich mal wieder einen Abend alleine im Hotel saß, googelt ich mich dumm und dusslig. Mit meinen Symptomen oder Problemen war ich gar nicht so alleine, stellte ich fest. Recht schnell fand ich ein Mittelchen, das auf einen Schlag all meine Probleme lösen konnte- aber natürlich bekam ich das nicht einfach in der Apotheke. Ich hatte keine Ahnung, wie das passiert war, aber auf einmal war die kleine passende Pillen in meinem Einkaufskorb gelandet und auf dem besten Weg zu meinem Postfach. Ich versprach mir viel davon, wenn nicht sogar, dass es mich zu dem alten Wincent machte. Was natürlich absoluter Schwachsinn war. Und dennoch gab mir das Wissen, dass es mir bald nicht mehr so beschissen gehen würde, einen richtigen Aufschwung. Ich war bei den folgenden Terminen pünktlich, konnte aktiv was zu den Meetings mit Amelie beitragen und postete immer mehr Storys auf Instagram. Nicht mehr lange, bis der Festivalsommer starten würde.

Hibbelig rutschte ich auf meinem Stuhl in Kevins Studio hin und her, weil ich wusste, ich würde heute meine Pillen kriegen. Ich setzte alles in diese Dinger, ohne zu wissen, was genau sie mit mir machten. „Ich finds ja schön, dass du besser drauf bist, aber kannst du bitte aufhören so rumzuzappeln", machte mich Kevin schmunzelnd blöd von der Seite an. „Sorry", murmelte ich nur und zwang mein Bein still zu halten. Es war allen aufgefallen, dass ich besser drauf war, aber dennoch hatte keiner weiter das Gespräch mit mir gesucht. Also nicht mehr als diese Sprüche wie eben von Kevin. Mir war klar, dass ich immer oder fast immer abblockte, wenn jemand mit mir reden wollte, aber vielleicht hätte ich das gebraucht? Amelie sah mich immer nur mit diesem Blick an, dass ich mir selbst noch mehr leid tat. Es war wirklich hart. Und anstrengend. Ich wollte so gerne meine Rolle spielen, wobei nein, ich wollte so gerne wieder Wincent sein, aber es klappte nicht. Egal was ich wie versuchte. Aber diese Pillen würden mir helfen, ganz sicher. Ich las nicht mal den Beipackzettel, sondern spülte mir direkt die erste mit einem großen Schluck Bier herunter, als ich abends alleine im Bett lag.

Es wird besser werden, sprach ich mir gut zu. Wie naiv war ich zu glauben, dass das ohne mein aktives Zutun passieren würde? Nur durch ein paar kleine Pillen...das würde doch sonst jeder tun. Tatsächlich konnte ich schon in der ersten Nacht besser schlafen, als all die Wochen zuvor. Ich träumte nicht, oder wenn, dann erinnerte ich mich am nächsten Tag nicht mehr daran. Ich fühlte mich ausgeschlafen. Ein Gefühl, dass ich schon lange nicht mehr hatte. Und das passend zur Releaseparty. Kevin und ich wollten heute um Mitternacht zusammen mit den Fans live das neue Album hören. Meine Fans freuten sich wie Bolle darauf, die Instastories waren voll mit Countdowns und vorfreudigen Nachrichten an mich. Jedes Mal wurde mir warm ums Herz, wenn ich meine Fans so sah. Diese Freude entschädigte für fast alles. Ich schmiss mir gleich mit meinem Morgenkaffee eine weitere Pille ein, nur prophylaktisch. Die nächsten Tage und Wochen liefen genauso weiter- abends das ein oder andere Bier zu der kleinen Pille und morgens noch eine zum Frühstück-, und ich war auf dem besten Weg in die Abhängigkeit. Aber soweit würde ich es nicht kommen lassen, vorher würde ich die Reißleine ziehen, rechtfertigte ich jede Pille, die ich mir einschmiss.

Aber es war zu viel beruflich momentan bei mir los, als dass ich mir Schwäche erlauben könnte. Nicht mehr lange, dann würde ich mein Leben wieder aus eigener Kraft stemmen können. Meine Studiozeit in München war mittlerweile vorbei und ich musste für ein paar Tage nach Berlin, um noch ein bisschen was mit Amelie zum Thema Album zu machen. Wir wollten ein paar Aktionen planen, aber auch nochmal dem ein oder anderen Radiosender einen Besuch abstatten. Da ich mit dem Auto fahren wollte musste ich an diesem Tag endlich mal das Bier weglassen. Ich hatte gut geschlafen und frühstückte entspannt mit Kevin und seiner Frau. Um den Entzugserscheinungen des Alkohols vorzubeugen schmiss ich mir danach beim Zähneputzen eine meiner Pillen ein und verabschiedete mich dann auf die Autobahn. 

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