Er schlug die Augen auf. Im ersten Moment wusste er nicht, was passiert war. Doch dann kamen die Erinnerungen langsam zurück. Wie schön war es doch noch vor ein paar Sekunden gewesen. Diese beruhigende Stille, die allen Schmerz dämpfte, die alle Sorgen wegwusch, wie das stille Fliessen eines unendlich langen Flusses. Wie wohl er sich gefühlt hatte, in dieser Wärme, die jeden Zentimeter seines Körpers umgeben hatte, ihn streichelte und die sich an ihn schmiegte. Es war einfach perfekt gewesen. Das Paradies. Doch jetzt war er zurück und sogleich spürte er einen stechenden Schmerz, der seinen Körper durchflutete und er hatte das Gefühl, er würde gleich zusammenbrechen. Er probierte aufzustehen, doch es klappte nicht. Seine Beine gehorchten ihm nicht mehr. Erst jetzt bemerkte er, wo er war. Es war ein dunkler, erdrückender Raum. Die Fenster waren zu, doch man sah, dass es Nacht war. Denn draussen schien der Mond hell und klar, doch seine Schönheit erreichte ihn nicht. Er konnte nur noch an die Weite denken. Wie weit er weg war... Das Mondlicht schien in eine Ecke des Zimmers, genau auf einen Spiegel. Doch statt das Licht zurückzustrahlen, dämpfte der Spiegel es, als wollte er auch noch das bisschen Wärme verschlingen, das der Mond ausstrahlte. Er hätte nur den Blick darauf richten sollen, dann hätte er sein Spiegelbild gesehen. Doch er zwang sich, sich auf seine Beine zu konzentrieren. Er wollte das Bild nicht sehen, er wollte nicht. Sogleich kam das Gefühl in seine Beine zurück, er spürte das Blut, das durch seine Adern strömte und er spürte die Wärme, die seine Beine durchschoss. Er stand wackelig auf, versuchte ein paar Schritte und rannte dann los. Raus aus diesem Zimmer, weg vom ganzen Geschehen...
Als er gut hundert Meter gerannt war, drehte er sich wieder um. Das Haus stand einsam und verlassen da. An den Wänden war die Farbe abgeblättert und das Fenster war eingeschlagen worden. Ich hätte früher hier sein sollen, dachte er sich und plötzlich überkam ihn dieses verhasste Gefühl. Allein. Für immer... Das Gefühl frass sich in jedes Glied du er fühlte die Tiefe, die Lehre, die ihn immer tiefer in sich hineinzog. Schliesslich schaffte er es seinen Blick abzuwenden und er rannte weiter. Seine Lungen brannten, als er stolperte und hinfiel. Gierig sog er die frische kalte Abendluft ein, obwohl es seine Lungen vereiste.
Er wusste nicht, wie lange er dagelegen hatte, doch als er blinzelte, stachen ihm die Strahlen der Morgensonne in die Augen. Mühsam richtete er sich auf. Nun wusste er, sie allein war ihm geblieben. Er tappte durch die Strassen, die sich immer mehr mit Leben füllten. Doch er spürte ihre Lebendigkeit nicht. Das süsse Lachen und herumtollen der Kinder, doch auch den Stress der Erwachsenen Leute, der trotz allem zum Leben dazugehörte. Das alles drang nicht bis zu ihm hindurch. Die Sonne strahlte am Himmel, doch auch ihre Wärme erreichte ihn nicht. Endlich war er angekommen. Es war kein grosses Haus, aber es passte zu ihr. Sie hatte diese
unglaubliche Fähigkeit, sich auch an den kleinen Dingen des Lebens zu erfreuen. Das Haus hatte einen kleinen Balkon voller Blumen. Sie liebte Blumen. Und der Geruch haftete an ihr, jeden Tag, immer. Und da stand sie, am Balkon mit einer Giesskanne in der Hand. Sie lächelte. Ihr Lächeln war so wunderschön, es liess alles dahinschmelzen, alle Sorgen, alles Leid. Und man erinnerte sich an die glücklichen Dinge im Leben. Er winkte ihr, doch sie bemerkte es nicht. Er rief ihren Namen, Geraldine, Geraldine, immer wieder. Doch sie blickte nicht auf. Er beschleunigte seine Schritte, rannte die Stufen zum Haus hoch und er bemerkte dabei die Stille nicht, durch das Pulsieren des Blutes in seinen Ohren. Er stand nun neben ihr, beugte sich zu ihr und wollte ihre Schulter fassen... doch seine Hände glitten durch ihren Körper. Er probierte es immer wieder, wollte sie halten, umarmen, ihren Körper, ihr Lächeln spüren. Doch seine Hände glitten durch sie hindurch. Da hielt er es nicht mehr aus, drehte sich um und rannte los. Er konnte nichts mehr Spüren, nichts mehr sehen. Er versuchte zu weinen, doch es klappte nicht. Ich habe es doch gespürt! , dachte er, das Blut, in meinen Beinen, in meinem Körper! Ich habe es gespürt!
Er stand wieder vor dem alten Haus, zögerte kurz, dann rannte er hinein. Ins dunkle Zimmer mit dem Spiegel. Der Spiegel... Er stand davor und hob langsam den Blick. Und erschauderte. Denn er sah nicht sein Spiegelbild, nur das Ende des Raumes. Nein! Er krachte auf den Boden. Neeeeiiiin! Und er schrie es in den Tag hinaus, alles Leid, alles Schmerz. Doch niemand hörte es, keiner reagierte. Er war allein. Für immer.