Staunend riss Haylen die Augen auf, während er sich im Schneidersitz in die Kissenecke des Kinderzimmers hineinkuschelte und das aufgeschlagene Bilderbuch auf seinem Schoß eingehend betrachtete. Weil vormittags im Waisenhaus wie gewöhnlich großer Trubel herrschte - Jacob sprang mit durch die Luft wedelnden Armen auf seinem Bett herum und trällerte sein übliches Lied, um das Mittagessen heraufzubeschwören, und Isabelle stritt sich mit Monica darüber, wer von den beiden die Puppe mit dem pastellblauen Rüschenkleid und dem braunen Haar und wer die andere Puppe mit dem rosafarbenen Rüschenkleid und dem blonden Haar spielen sollte -, hatte ihm Sonja, eine der Erzieherinnen, zur Beschäftigung eines ihrer besonderen Bilderbücher überreicht, um bis zum Klingeln der Mahlzeitglocke darin stöbern zu dürfen. Trotz des vielen Lärms aus Gelächter, Gesang und Streitereien im Raum galt Haylens Aufmerksamkeit einzig und allein den malerischen Illustrationen auf den Seiten des Einbands, welche dem Leser wie eine Tür zu einer fremden, weit entfernten Welt erschienen.
Die faszinierende Führung der Pinselstriche, welche eine Weide aus immergrünem Gras und einem sich darüber erstreckenden, vom Funkeln der Sterne erstrahlten Himmelszelt formten, übten eine derartig hypnotisierende Wirkung auf den Jungen aus, dass er das Bilderbuch mit den Augen regelrecht verschlang und seine winzige Stupsnase gegen das Papier presste.
Dies entlockte einer bestimmten Person ein amüsiertes Kichern. "Dir haben Sterne schon immer sehr gefallen, oder, Haylen?"
Der Angesprochene schaute überrascht vom Rand des Buches auf und begegnete Sonjas warmen Blick, der ihn eingehend musterte. Haylen hatte die Anwesenheit der hübschen, blonden Erzieherin mit dem warmherzigen Lächeln und der Schürze im Bärchenmuster bisweilen nicht bemerkt, und er nickte eifrig, um so auf ihre Frage zu antworten.
"Ja, ich finde Sterne echt toll! Aber woher weißt du das?"
"Weil du schon als Baby immer deine winzigen Händchen nach dem Himmel ausgestreckt hast, wenn wir draußen auf der Lichtung ein Picknick gemacht haben", erklärte ihm Sonja beherzt und setzte sich neben dem Jungen in die Kissenecke, um ihn mit der Hand übers Haar zu streicheln, "Es war richtig erheiternd, dir dabei zuzusehen, wie du immer versucht hast, den Kopf weit in den Nacken zu legen, um die Sterne zu betrachten."
Ein höhnisches Lachen ertönte nicht weit von ihm entfernt, da Jacob der Unterhaltung gelauscht und seine Springerei auf dem Bett unterbrochen hatte, um mit dem Finger auf Haylen zu zeigen.
"Hahaha! Du bist ein Sternengucker-Bursche!", hänselte er seinen gleichaltrigen Kameraden und zeigte sein freches Zahnlückengrinsen, "Lang-wei-lig! Lang-wei-lig!"
Unerwartete Wut erfasste Haylen, und er legte das Bilderbuch vorsichtig beiseite, um aufzustehen und mit dem Fuß aufzustampfen. "Das ist nicht langweilig, du Hornochse!", feuerte er zurück und stämmte nachdrücklich die Hände in die Hüften, "Du bist nur neidisch, weil Sonja mir das Bilderbuch gegeben hat, da ich nicht dauernd Sachen kaputtmache, sowie du immer!"
Jacob reagierte nicht auf die Beleidigung und ließ seine braun gebrannten Beine über der Bettkante baumeln. "Sterne sind total öde", meinte der Lausbub verächtlich und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, "Warum soll ich sie in einem Buch anglotzen wollen, wenn man sie eh die ganze Zeit draußen sieht?"
Verärgert schnitt Haylen eine Grimasse und verglich die märchenhafte, surreal wirkende Malerei aus dem Bilderbuch mit dem milchig blauen Himmel über Hajimari, den man vom Fenster im Kinderzimmer aus erblicken konnte: Das schwach in der Ferne funklende Firmament hinter den schneeweißen Schäfchenwolken machte neben der schillernden, bunten Galaxie über der Wiese auf dem Bild einen eher verschlafenen Eindruck, und Haylen hatte ihn tatsächlich schon öfter beobachtet, als er hätte aufzählen können.
"Das ist aber nicht das Gleiche!", entgegnete der nach wie vor auf Krawall gebürstete Junge, doch bevor er mit seiner Predigt fortfahren konnte, legte Sonja ihm besänftigtend eine Hand auf den Rücken. Während des Streitgesprächs der beiden Achtjährigen hatte sie ihr strahlendes Lachen zutage gebracht, wobei ihr weiches, sommerblondes Haar über ihre Schultern glitt.
"Nicht doch, meine Lieben", tadelte sie ihre Schützlinge, doch anstelle von Ärger verriet der Tonfall der Erzieherin lediglich Belustigung, "Es ist doch vollkommen in Ordnung, wenn man verschiedene Interessen für allerlei Dinge hegt. Wenn alle Menschen gleich wären, würde das die Welt doch zu einem ziemlich einfarbigen Ort machen, meint ihr nicht?"
Haylen blinzelte Sonja aufmerksam an. "Heißt das, es ist in Ordnung, von den Sternen zu träumen?", erkundigte er sich und warf Jacob einen überlegenen Seitenblick zu, um dessen verdutzte Miene genießen zu können.
"Selbstverständlich, mein Kleiner", bejahte die Erzieherin, und auf ihren rosafarbenen Lippen erschien jenes bildschöne Lächeln, welches der Junge schon seit frühester Kindheit geliebt hatte, "Anstelle uns wegen unserer Unterschiede zu hänseln, wäre es doch viel schöner, sie zu feiern, findet ihr nicht?"
Der letzte Satz richtete sich offenbar auch an Jacob, obwohl Sonja ihn dabei nicht ansah. Doch während der Lausbub nur beleidigt mit den Augen rollte und sich mit gespieltem Desinteresse abwandte, versprach sich Haylen, immer an diese Worte zurückzudenken, sollte ihn jemand in Zukunft nochmal für seine Vorlieben auslachen wollen.
So kehrte der Junge zu seinem Platz neben seiner Erzieherin in der Kissenecke zurück und hievte das Bilderbuch wieder auf seinen Schoß, um gemeinsam mit ihr durch die fantasievollen Illustrationen darin zu blättern, bis die Mahlzeitglocke sie alle zum Mittagessen herbeizurufen würde.
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STARSQUAD - Einmal Kosmos und zurück: Das Sternenschiff
Science Fiction»Ich weiß nicht, ob mein Leben überhaupt einem bestimmten Zweck dient - aber ich werde niemals zulassen, dass das Licht der Sterne von dir erloschen wird!« ~-~-~-~ Der junge Haylen führte ein ruhiges Leben auf seinem Heimatplaneten - bis dieser von...