Chapter 9

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Es war verschwunden. Alles. Ich hatte nur eine Sekunde nicht hingesehen und schon war es weg. Die Schrift, die Augen, die Haare. Selbst der Stift lag wieder an seinem vorherigem Platz. Nicht mal ein Hauch von meiner Zeichnung war auf dem Papier zu erkennen. Wütend fegte ich alles was sich auf dem Schreibtisch befand herunter. Sofort stand es wieder an Ort und Stelle. Alles verschwand! Meine Freunde, meine Familie, selbst die blöde Zeichnung! Und ich konnte nichts dagegen tun. Ich fuhr mir mit der Hand durchs Gesicht und ließ mich auf mein Bett fallen. Was mach ich hier nur?


Von unten hörte man die Stimme des Notars. Sie war laut und kräftig, sodass man hätte taub sein müssen, um ihn nicht zu verstehen. Mittlerweile war er jetzt schon fast eine Stunde da, was mich wunderte, weil eigentlich nicht so viel in meinem Testament gestanden hatte das man vererben konnte. Ich lag immer noch in meinem Bett. Der Morgen war langsam und zäh an mir vorbeigezogen, genauso wie die Nacht. Ich war die ganze Zeit wach gewesen und hatte nachgedacht. Worüber wusste ich nicht mehr. Wahrscheinlich war es sowieso nur unbedeutendes Zeug gewesen.

Seufzend drehte ich mich auf die Seite und versuchte das Gerede des Notars mit Kissen auf meinen Ohren zu ersticken. Es brachte nichts. Dafür hörte ich aber was anderes. Ein Rummsen. So als wäre die Haustür gerade ins Schloss gefallen. Sofort war ich auf den Beinen und presste mir meine Nase am Fenster platt. Hätte mich von draußen jemand gesehen, würde er wahrscheinlich denken, ich wäre ein Mops oder sowas. Aber da war nur eine wütende Thea, die gerade aus dem Vorgarten stampfte und wie verrückt auf ihr Handy einhackte. Vermutlich rief sie wiedermal eine Freundin an. Passierte in letzter Zeit ja ziemlich oft. Was machte sie dort draußen? War die Vorlesung etwa schon vorbei?

Es war tatsächlich ruhig geworden dort unten. Wenn man genau hinhörte konnte man das Geflüster meiner Eltern hören. Anscheinend war die Aktion von Thea nicht geplant gewesen, denn sie klangen beunruhigt. Auf Zehenspitzen schlich ich über den Gang und die Treppe hinunter, bis ich merkte, dass mein Schleichen völlig unnötig war, da mich sowieso niemand hören konnte. Sie saßen immer noch im Wohnzimmer. Meine Eltern auf dem hässlichen Sofa, das wir vor Jahren von meiner Tante bekommen hatten und der Notar auf dem dazugehörigem Sessel gegenüber. Alle sahen entweder perplex, verzweifelt oder verärgert aus, woraus ich schlussfolgerte, dass Thea am besten noch ein bisschen länger bei ihrer Freundin bleiben sollte, zumindest bis sich die Situation wieder ein bisschen beruhigt hatte.

Mein Blick fiel auf den Notar. Dem sollte sie am besten gar nicht mehr begegnen. Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn angesammelt, so sehr verzog er sein Gesicht. Sein wütender Blick verschlang geradezu unsere Haustür durch die eben noch meine Schwester geflüchtet war. Er war mir unsympathisch. Schlacksig saß er in seinem grauen Anzug da, einen viel zu kleinen Hut auf dem Kopf, der gerade mal ein paar mickrige graue Haare trug, einem gezwirbeltem Schnurrbart und knallgelben Socken. Seine Schuhe waren blank poliert, ebenso wie die Knöpfe des Jackets und die silberne Armbanduhr, die unter dem einfallendem Sonnenlicht glänzte.

Anklagend blickte ich zu meinen Eltern. Und das war mein Notar? Ein bisschen enttäuscht war ich ja schon. Aber ändern konnte ich sowieso nichts mehr. Nachdem ich ihn eine geschlagene viertel Stunde dabei beobachtet hatte, wie er Sätze anfing, aber nie beendete, versuchte ein Gespräch mit meinem Eltern aufzubauen und sich den Hut zwischendurch vor lauter Nervosität auf- und absetzte, sah er anscheinend ein, dass es keinen Sinn mehr hatte und er am besten von hier verschwinden sollte. Das Testament war sowieso schon verlesen. Fünf Minuten später hatte er seine sieben Sachen zusammengeräumt und verabschiedete sich mit einem Nicken. Dann war er weg.

Sofort löste sich die angespannte Stimmung meiner Eltern und sie plapperten wild aufeinander los, wobei keiner auf die Worte des anderen achtete. Mal ging es um Thea, dann um das Testament, Mich oder den Notar. Irgendwann rief Mum Thea an, um sich zu vergewissern, dass sie in guten Händen war. War sie. Ihr ging es blendend, sie machte einen Spa-Day mit ihrer Freundin und versprach um halb acht wieder da zu sein. Mum stand die Erleichterung sichtlich ins Gesicht geschrieben. Man merkte, dass sie das alles doch sehr mitnahm. Erst mein Tod und jetzt musste sie auch noch die Folgen mit einem pubertierendem Teenager durchlaufen.

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