Capra

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"Was jetzt kommt, hast du einzig und allein dir selber zuzuschreiben. Was bist du auch so verfressen..."

Der Rechtsmediziner war schon besserer Laune gewesen. Allein die Tatsache, dass sein schöner weißer Wagen zur Hälfte mit Schlamm und Mist bedeckt war, verärgerte ihn immens. Sein Cabrio war nicht billig gewesen - gar nicht erst auszudenken, was die örtliche Waschanlage für die Reinigung verlangen würde. Aber noch schlimmer als der Zustand seines Wagens war sein Beifahrer. Es war eine Ziege, die da auf seinen schönen Sitzpolstern stand und ihn schon zum dritten Mal die Sicht auf die Straße nahm, indem sie ihren Kopf vor seinen schob und noch dazu laut meckerte.

"Ich hab dir nicht gesagt, dass du das Tütchen fressen sollst", knurrte Boerne und schob das Tier ruppig zur Seite, "eigentlich sollte ich derjenige sein, der meckert. Den Dreck bekomme ich ja nie mehr aus den Sitzen... Wenn es jetzt bloß kein Gewitter gibt..." Der Himmel hatte tatsächlich etwas zugezogen, als sie von Wolbeck aufs Zentrum zusteuerten.

Es war wahrlich nicht schön für den sonst so angesehen Professor, jetzt mit einer Ziege im verdreckten Wagen durch die Münsteraner Innenstadt zu fahren. Die Leute machten natürlich Augen, denn etwas groteskeres als Thiel im Schlafanzug hatte Boerne noch nie durch die Innenstadt chauffiert. Wobei - seine Schwester, diese alte Schreckschraube, sollte er auch in seinem Ranking der merkwürdigsten Beifahrer aufnehmen, sie war sicherlich in der Top Five vertreten. Ob er nun die Ziege, Thiel oder Hannelore bevorzugte, konnte und wollte er lieber nicht sagen. 

Boerne war froh, als er endlich im Keller der Rechtsmedizin angelangt war und den Augen der Schaulustigen entkommen war. Als er seiner haarigen Begleitung jedoch einen Blick zuwarf und das Tier beinahe bestialisch meckerte, stellte er fest, dass der schwerste Teil noch vor ihm lag. Es war schon eine Herausforderung gewesen, das störrische Tier überhaupt hier herunter zu bugsieren - ohne Betäubung kam er hier vermutlich nicht weit. Und tatsächlich schaffte der Rechtsmediziner es nicht einmal einen Ultraschall durchzuführen, weil sich das verfluchte Ziegenvieh nicht stillhalten wollte. Nachdem die eine oder andere doch recht unschöne Beschimpfung Boernes Lippen verlassen hatte, gab er es auf. Allein kam er hier nicht weiter. 

So er sich dagegen sträubte, es einzusehen, aber hier brauchte er sein besseres Viertel. Alberich hatte ein Händchen für Tiere, ohne Frage, aber wie sollte er sie jetzt noch in die Rechtsmedizin locken - immerhin hatte sie schon seit knapp zwei Stunden Feierabend. Vielleicht ein Trick, irgendein Manöver? Nein, darauf würde sie garantiert niemals reinfallen. Alberich war nicht blöd und er war ein miserabler Lügner. Auf gut Glück? Die Chancen standen schlecht, aber etwas besseres fiel ihm nicht ein.

"Alberich!", begrüßte er seine Assistentin, sobald sie das Telefon abhob.

"Chef? Was ist denn? Sie klingen ja so gutgelaunt", kam Alberichs Antwort.

Verdammt. Boerne presste die Lippen aufeinander. "Och, Alberich... nun ja..."

"Sie wollen doch irgendwas", stellte Alberich fest und traf somit den Nagel auf dem Kopf. "Schon wieder Überstunden? Gibt's eine Leiche?"

Unnötigerweise schüttelte Boerne den Kopf. "Eine Ziege", korrigierte er.

"Eine... Ziege?"

"Ja, Ziege", wiederholte Boerne, "unter Fachleuten Capra genannt, eine Gattung der Bovidae, zudem Ruminantia und Artiodactyla. Überwiegend verbreitet in -"

"Ja ja, ich weiß, was eine Ziege ist - aber warum um alles in der Welt...", unterbrach sie ihn entnervt. Er hörte sie seufzen. "Ich bin in fünfzehn Minuten da."

"Danke", antwortete Boerne und das sogar ohne jeglichen Zynismus oder Sarkasmus. Es war immerhin nicht selbstverständlich, dass Alberich nach all den Überstunden, zu denen er sie diesen Monat bereits genötigt hatte, noch zustimmte, um sieben Uhr abends in die Rechtsmedizin zu kommen. "Ich lege schonmal die OP-Kleidung bereit", fügte Boerne hinzu und legte auf. Nicht, dass Alberich doch noch einen Rückzieher machte.

CapraWhere stories live. Discover now