Teil 50 - Showdown

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In der vollkommenen Stille waren die Schritte, die sich ihnen näherten, wie Felsbrocken, die eine Klippe hinabstürzten. Das dumpfe Geräusch von Schuhen auf dem Asphalt drückte YN gegen das Trommelfell. Es war offensichtlich, dass nicht nur eine Person auf sie zuschritt; mindestens zwei menschliche Gehmuster konnte sie identifizieren, womöglich waren es mehr, das vermochte sie nicht herauszuhören. Ein kalter Schauer fuhr ihr über den Rücken und sie zuckte unkontrolliert zusammen, in den nächsten Sekunden mussten sie bei ihnen sein, es konnte sich nur noch um Sekunden handeln.

Hisoka verharrte noch immer in seiner gebeugten Haltung über ihr und sein warmer, aber ruhiger Atem prickelte, als er auf YNs Haut traf. Seine Hand rutschte an ihrer Seite hinauf und er packte sanft ihre Schulter; mit dem Daumen streichelte er über ihr Schlüsselbein und küsste sie sachte, ehe er sich von ihr abwandte, den Arm noch immer an der Wand gestützt.

Sie konnte in seinen Augen erkennen, dass er sich bereits in einem anderen Modus, seinem Kampfmodus, befand. Zwar war es nicht der gleiche angriffslustige Blick, den sie schon so oft an ihm beobachtet hatte, aber die Entschlossenheit, die in seinen Pupillen lag, war nicht weniger einschüchternd. Auf sein Ziel gerichtet wartete er regelrecht, dass es los ging. Es schien mehr als nur um ein banales Kräftemessen zu gehen, fast so als hätte YN die wichtigen Eckpunkte nicht mitbekommen, als fehlten ihr wichtige Informationen - sie fühlte sich wie ein Klotz am Bein - und plötzlich überkam sie die Angst, dass etwas Unheilvolles geschehen würde.

Wird etwas passieren, wovon Hisoka mir nichts erzählt hat? Gleich ist es soweit. Chrollo wird herkommen, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass das nicht gut endet. Er wird doch nicht etwa...?

Ihr Atem, den sie kaum aus der Lunge pressen konnte, kondensierte in der Luft und ihre Lippen kribbelten taub. Sie hatte das Gefühl, dass die Temperatur schlagartig um einige Grad gesunken war. Die Schritte waren längst so nah, dass nicht einmal ihr Puls sie übertönen konnte.

"Na, wen haben wir denn da? Meinen Freund Hisoka und seine hübsche Perle."

YNs Herz setzte aus. Da ihr die Sicht versperrt wurde, erkannte sie an der arroganten Stimme und Wortwahl, dass es eindeutig nicht Chrollo war und bei diesem Klang gefror alles Blut in ihren Adern. YN fühlte sich in die Situation zurückversetzt, als sie zum ersten Mal bei einem Kampf in der Himmelsarena war: Allein in der Privatloge, alle Augen auf sie gerichtet.

Ryu Kantaro schritt auf sie zu und blieb keine zwei Meter von ihnen entfernt stehen. Selbstbewusst lehnte er seinen Unterarm an die Fassade der schmalen Gasse, umfasste mit der anderen Hand sein Kinn und setzt sein gespielt charmantes Lächeln auf.
Wie bei ihrer letzten Begegnung war er angezogen, als wollte er an einem wichtigen Businessmeeting teilnehmen: Hemd, Krawatte und Anzughose - natürlich maßgeschneidert und nach der aktuellen Mode, allein das aufgeknöpfte Hemd durchbrach den Stil. Haarsträhnen fielen ihm ins Gesicht, was ihm - bei der spärlichen Beleuchtung - einen noch bösartigeren Ausdruck verlieh, was YN instinktiv nach Halt suchten ließ. Sein absurde Grinsen war zu einer Fratze verzerrt worden und er verströmte eine mit Händen greifbare Wut. "Du glaubst gar nicht, wie lange ich diesen Augenblick herbeigesehnt habe..."

Sie hatte sich die Kälte nicht nur eingebildet, sie stand nun wahrhaftig vor ihnen. Ryu Kantaro, der Sohn von Hisokas letztem großen Auftraggeber war gekommen, um sie in Empfang zu nehmen.

"Ganz wunderbar", unterbrach Hisoka ihn mit einer beiläufigen Handbewegung, was Ryu mit verärgerter Mine zur Kenntnis nahm.
Hisoka legte den Kopf schief und ließ seine Worte ihre Wirkung entfalten. "Wir sind nicht wegen dir hier, dazu bist du nicht wichtig genug."

Bei den Worten ihres Freundes erstarrte YN, während ihr Herz panisch hämmerte. Wie gerne hätte sie ihm einen Seitenhieb verpasst, verstand jedoch auch, wann es klüger war, sich nicht einzumischen. Dass sie alle sich auf sehr dünnem Eis bewegten, war offensichtlich und dass sie selbst in einer physischen Auseinandersetzung ganz klar den kürzeren zog, lag ebenfalls auf der Hand. Das bedeutete, dass es also eins gegen eins stand; hier war YN eindeutig als Last für Hisoka einzustufen.

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