kapitel neun: tränen und brüche

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Die Strahlen der späten Nachmittagssonne bahnten sich einen Weg durch die nur halb geschlossene Jalousie. Malten ein gleichmäßiges Linienmuster auf den Holzboden. Daneben achtlos auf den Boden geworfene, aber saubere Spitzensöckchen.

Chloe saß im Schneidersitz an ihrem Schreibtisch, ein Buch auf den Knien. Doch was im Buch stand, interessierte sie nicht. Sie wusste, dass es bald an der Zeit war. So gerne sie alles, womit sie in den letzten Wochen konfrontiert wurde, verdrängen wollte, konnte sie es bald nicht mehr. Dieser Gedanke machte ihr Angst, aber er löste auch ein seltsames Kribbeln in ihr aus, eine Lust nach Abenteuer, eine Neugier, was in dieser Welt vor sich ging.

Und sie wusste, wo sie anfangen würde.

Sie hatte ihren Augen nicht trauen können, als sie den Kunstraum erblickt hatte. Nun, der Raum war unspektakulär, wenn auch ungewöhnlich sauber gewesen, aber die Personen darin, eine ganz bestimmte Person darin, hatte sie zutiefst geschockt. Und diese großgewachsene Person besaß kupferfarbenes Haar und trübe Augen.

Sie hatte ihren Augen zuerst nicht trauen können, als sie Alex, oder wie sie jetzt wusste, Alexia, in der ihr zugeteilten Kamera erblickte. Zwar konnte sie ihre Gedanken nicht lesen, denn ihr Schützling, ein eher kleines, ängstliches Mädchen namens Melina, nahm die Gedankenspalte ihres Bildschirms ein. Doch Chloe hatte sich schnell bei den anderen Mitgliedern ihrer Gruppe erkundigt, um auch Zugriff auf Alexias Innenwelt zu erhalten. Selena gegenüber, der Alexia zugeteilt war, hatte sie eine wenig überzeugende Ausrede erfunden, aber diese schien Chloe entweder zu verstehen oder ihr war es schlichtweg egal, als sie ihr freiwillig die Nummern bereitstellte. Ellis Zugeteilter hieß Cosmo und war ein älterer, aber liebenswürdig aussehender Mann, der anscheinend sogar eine Familie hatte, die Elli jedoch nie zu Gesicht bekommen hatte.

„Wieso ist er nicht bei seiner Familie?", hatte Chloe sie einmal gefragt, worauf Elli nur mit den Schultern zuckte und antwortete:

„Ich weiß es nicht. Aber der Gedanke an seine Familie war so ... vage? Verstehst du, was ich meine? Würde man nicht genau darauf achten, könnte man nichts daraus lesen, aber ich hab halt gerade aufgepasst. Ich bin mir auch nicht sicher, ob er das wirklich gemeint hat. Aber, heutzutage kann man eh nichts wissen."

Ihr Blick wanderte in die Ferne und Chloe fragte sich, was Elli wohl dachte. Sie wirkte in den letzten Wochen, kurz nachdem sie den Zugriff auf die Kameras erhalten hatten, sehr anders.

Sie interessierte sich weniger für die Schule, schwänzte sogar manchmal und kam immer häufiger vollkommen fertig mit dunklen Augenringen in die Schule. Chloe fragte sich, was sie wohl nachts nicht schlafen ließ. Und gleichzeitig fragte sie sich, ob es nicht besser war, das nicht zu wissen.

Sie selber ärgerte sich im Nachhinein darüber, den uneingeschränkten Zugriff, der mit dem Treffen mit Mr. Barnaby vor einer Woche beendet war, nicht wirklich genutzt zu haben. Zu viel Angst hatte sie gehabt, sie dachte, durch Verdrängen müsste sie nicht damit konfrontiert werden, was die Blinden tagtäglich durchmachten. Von den überfüllten Bahnen bis hin zu den grausamen Arbeitsbedingungen und natürlich, dem Familienleben. Chloe wusste nicht, ob es den anderen auch so ging, aber der Gedanke, dass Blinde in einer Familie lebten, in einer Gemeinschaft von Eltern und Kind, erfüllte sie mit einem seltsamen Gefühl, das sie nicht ganz deuten konnte. Oder längere Zeit lang fühlen konnte. Oder wollte.

Sie hatte sich damals für Verdrängung entschieden, eine Strategie, die bisher immer funktioniert hatte, wenn sie Gedanken dachte, für die sie wahrscheinlich ausgelacht werden würde. Zum Beispiel, wer ihre Eltern waren. Ob sie Geschwister hatte. Sie dachte zurück an den letzten Sommer, den sie so unglaublich einsam verbracht hatte, in ihrem Zimmer, wo sie sich sehnlichst ein Abenteuer gewünscht hatte.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Feb 16, 2021 ⏰

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