27 | Einsames Schicksal - Part I

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 „Halt still Liebes, sonst erwische ich dich noch mit der Nadel!"
Tadelnd schüttelt Kolibrichen den Kopf, ihre dunkelgrün gefärbten Augenbrauen zusammengezogen. Ich nicke entschuldigend und richte mich auf, die Luft anhaltend. „Schon besser", lobt sie. Mit flinken Bewegungen nimmt sie die letzten Änderungen an dem Kleid vor. Ein, zwei Mal spüre ich die kalte Nadel auf meiner blanken Haut, aber sie pikst nicht. „Wunderbar, sitzt wie angegossen." 

Die zarte Frau tritt einige Schritte zurück, um ihr Werk zu begutachten. Auch ich habe jetzt zum ersten Mal freien Blick in den Spiegel, auf das Outfit für die Interviews heute Abend. Blumenranken aus Spitze schlängeln sich über meine Arme und Oberkörper, bevor sie an der Taille in einen weichen, knielangen Chiffonrock übergehen. Um unseren Tributen, vor allem Cordelia, nicht die Show zu stehlen, trage ich flache Schuhe. Perfektes Understatement, wie Cece gesagt hat. Was immer das heißt. Andächtig streiche ich über den teuren Stoff. 

„Es ist wirklich schön", sage ich an meine Stylistin gewandt.
„Oh, das ist noch nicht alles!" Kolibrichen kramt zwischen ihren Nähsachen und zieht ein fliederfarbenes Schleifenband hervor, das sie mir um die Taille bindet. „Damit man auch erkennt zu wem du gehörst", erklärt sie zwinkernd. Tatsächlich, der Stoff hat dieselbe Farbe wie der Entwurf von Cordelias Kleid. 

„Wirklich, ganz toll", höre ich eine sarkastische Stimme in meinem Hinterkopf. Oder kommt sie doch aus dem Raum? Irritiert blinzle ich. Dunkle Vorahnung erwacht in mir. Es ist nicht lange her, dass sie scheinbar von den Toten wiederauferstanden ist. Zögerlich schlage ich die Augen wieder auf und sehe Shine, gegen den großen Spiegel vor mir gelehnt. „Süße, unschuldige Annie, auf dem Weg ihre Tribute ins Verderben zu schicken." Ihr Mund verzieht sich zu jenem gehässigen Grinsen, das ich schon immer gehasst habe. 

Meine Hand fährt zu der Kette am Hals. Mit zitternden Fingern umschließe ich das kleine Medaillon. „Sie ist nicht real", flüstere ich leise.
„Hm?", kommt es von Kolibrichen, die inzwischen ihre Utensilien zusammen packt. „Hast du was gesagt, Liebes?"

Ich schüttle den Kopf, denn der Anblick von Shine schnürt mir den Hals zu. Sie stößt sich vom Spiegel ab und tritt bis auf wenige Zentimeter an mich heran. Angst erfüllt verharre ich, als sie ihre Hand nach mir ausstreckt. Doch ihre Fingerspitzen gleiten nur über den Saum des Kleides. Wie von einem Lufthauch ergriffen wellt sich der Stoff unter ihrer unwirklichen Berührung.
„Viel Spaß, kleine Annie", wispert Shine, deren boshafte Augen sich in meine bohren. 

Immer noch das Medaillon umklammernd stolpere ich rückwärts, verliere den Halt und falle zu Boden. Auf klappernden Absätzen kommt Kolibrichen herbei gelaufen und beugt sich herab. Bevor sie Anstalten macht mir aufzuhelfen, springe ich hastig auf die Füße.
„Alles gut?", ruft die Stylistin besorgt und zwingt mich, sie anzusehen, anstatt nach Shine Ausschau zu halten.
„Äh, ja, klar", stammle ich. „Nur ungeschickt."

Sie sieht mir prüfend in die Augen, dann umrundet sie mich, um das Kleid am Rücken zu richten. Erleichtert stelle ich fest, dass von Shine jede Spur fehlt.
„Wie lange haben wir noch?", frage ich Kolibrichen, um von meinem kleinen Ausfall abzulenken.
Mitleidig sieht sie mich an. „Es ist bald so weit." Sie macht sich daran, die restlichen Sachen in ihre große Tasche einzupacken. „Ich muss los und nach den Stars der Show sehen", seufzt sie, „mal sehen, ob Roan wieder in letzter Minute durchdreht."
„Dann komme ich mit", biete ich schnell an, um dem Zimmer, in dem weiterhin der Schatten von Shine lauert, zu entkommen.
„Ich hatte gehofft du würdest das sagen." Lächelnd hält sie mir die Tür auf.

" Lächelnd hält sie mir die Tür auf

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Meeressturm | Annie CrestaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt