~65 [3/3]~

5.5K 164 65
                                    

Bei Gott, Julian hatte das nicht verdient. Das erste Mal in meinem Leben hatte ich den Fokus aus den Augen verloren. Und ich hatte noch nie die Kontrolle verloren.

Ich nahm jeweils vier Treppenstufen und sprang den letzten Absatz herunter. Ich spurtete hinaus und raste auf das Motorrad zu. Schnell drehte ich am Gas und die Reifen drehten sich, ehe ich zurückgezogen wurde, mich noch rechtzeitig festhielt, und das Motorrad sein Knurren im ganzen Viertel schallen ließ.

Ich raste auf die Route Nationale 94 zu, sobald ich sie über die Schilder las. Ich war dankbar für den beistehenden Motorradhelm, sonst hätte ich vermutlich einen Kälteschock bekommen, bei der hohen Geschwindigkeit, die ich die ganze Zeit konstant hielt. 

Eine halbe Stunde vor Halbzeit war ich gezwungen zu tanken. Mit der Waffe in der Hand verlor ich keine Zeit und die anderen Kunden waren freundlich genug, mich vorzulassen.

Ich war aber nicht asozial, deshalb bezahlte ich trotzdem und verließ zügig die Tankstelle. 

Ich setzte mich wieder auf und hörte die laut quietschenden Autos mit den abgedunkelten Fenstern, die auf mich zurasten. 

Verdammte Scheiße.

Die Mancinis haben mich gefunden.

Ich glaubte sogar Schüsse zu hören.

Ich wusste, dass meine Aktion bei der Tankstelle ein Zeichen dafür war, dass ich lebensmüde war. Dieser Mann hinter der Kasse konnte wer weiß was ich sein.

Hier in Italien genoss ich keine Sekunde Schutz.

Sizilien und Italien beherrschten die Mancinis. 

Im Gegenteil, ich wäre ab sofort ein viel versprechendes Kopfgeld bei jedem, der bei Riccardo Macht und Geld ersuchte.

Ich verlor keine Zeit und spurtete davon. 

Vier weitere Stunden fuhr ich, ich fuhr in die kalte Nacht hinein. Bis es  bald drei Uhr war und ich umgerechnet noch etwa eine Stunde brauchte, bis ich an der Grenze war. Meine Augen drohten zuzuklappen, ich würde nicht mehr viel Kraft haben.

Körperlich wie psychisch.

Ich hatte in Riccardo alles gesehen. Sogar eine Zukunft. Die zunichte gegangen war. Wegen unserer familiären Geschichte, seiner Sturheit, der Sturheit meines Vaters und meinem Drang zum Überlegen.

Alles war kaputt gegangen.

Und Julian war tot.

Jemand war durch meine Hand gestorben.

Schon wieder.

Der Himmel war bald nicht länger schwarz und von Sternen bedeckt. Eine morgendliche Helligkeit ließ meine roten Augen brennen und ich merkte bald, wie wüstentrocken mein Hals war. 

Eine halbe Stunde noch, dann würde ich es endlich geschafft haben.

Die Blinkleuchte zum Tanken erschien.

Bling, bling, bling.

"Oh nein, du wirst jetzt weiter durchfahren!", schimpfte ich, doch ich war gezwungen, vom Gas herunter zu gehen.

Ich war den Autos voraus, ein Motorrad konnte man nicht so schnell kriegen.

Trotzdem bemühte ich mich nun darum, konstant 120 Stundenkilometer zu fahren. Ich wollte die Situation nicht provozieren.

Eigentlich durfte ich sie gar nicht provozieren.

Bei dem Gedanken daran, bald wieder auf meinem eigenen Honda zu sitzen, erwärmten sich mir bei der Fahrt meine tauben Finger und ich griff fester nach den Lenkern.

R O M E R O {Riccardo Mancini} [ABGESCHLOSSEN] Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt