6. Ich hab in sein Auto gepisst

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°○ Leon ○°

Was war das jetzt gerade gewesen? Ich kapierte es nicht.
Sollte ich jetzt ernsthaft Schuld an allem sein?
Diese ganze gottverdammte Scheiße?
Was hatte ich denn überhaupt damit zu tun? Gar nichts!
Und es war jetzt ja auch nicht so, als hätte ich selber nicht schon genug Probleme. Zum Teufel, ich hatte einen ganzen Arsch voll davon!
Aber hätte ich das deswegen einfach alles ignorieren sollen? Einfach die Schnauze halten? Einfach alles so weiterlaufen lassen, als wüsste ich von nichts?
Das wäre doch krank gewesen!
Damit hätte ich mich doch mindestens genauso schuldig gemacht, wie Manuel! Der hatte das doch alles mitbekommen! Hatte ganz genau gewusst, was da bei ihm Zuhause hinter verschlossenen Türen abgelaufen war! Jahrelang! Und er hatte nichts getan!
Und ich sollte jetzt der Böse sein?
Ich hatte Maria gerettet, verdammt noch mal!
Dank mir hatte sie dieser ganzen Hölle doch erst entkommen können! Weil ich den Mund aufgemacht hatte!
Was war daran falsch gewesen?
Wie lange hätte ich mir die Geschichte denn angucken sollen? Wie oft wäre Maria noch von Zuhause weggerannt? Wie oft hätte sie noch weinend nachts neben mir im Bett gelegen? Und wie oft hätte sie sich noch selber verletzt, wenn ich mich nicht eingemischt hätte?
Es begann zu regnen, natürlich gerade in dem Moment, wo ich an der Station Thomas-Rathmann-Straße aus dem Bus stieg, also setzte ich mich erst einmal ins Häuschen. Wartete, bis alle Leute, welche mit mir aus dem Bus gekommen waren, die Haltestelle verlassen hatten und ließ die Tränen dann kommen.
Sollte bloß irgendeiner mal wieder das Maul aufreißen, von wegen, such dir ne Freundin! Der hätte direkt eine in der Fresse sitzen!
Was glaubten die auch alle? Was sollte so toll daran sein, eine Freundin zu haben? Was hatte man davon? Einen Scheiß hatte man davon! Nichts als Stress hatte man davon, noch mehr als sowieso schon!
Aber jetzt war es ja vorbei. Jetzt hatte Maria mich abgeschossen.
War ja auch nur eine Frage der Zeit gewesen. Mir war schon immer klar gewesen, dass ich nicht gut genug für sie war. Dass ich es ihr einfach nicht recht machen, dass ich sie nicht glücklich machen konnte, egal wie sehr ich es auch versucht hatte.
Ich hatte es immer gewusst. Alle hatten es gewusst, dass wir nicht zusammen passten.
Jeder hätte voraus sagen können, dass es so zwischen uns enden würde. Und dass ich dann der Böse in der Geschichte wäre.
Was heulte ich deswegen jetzt auch? War doch nichts Neues, dass ich immer nur das Arschloch für alle war! Dass ich immer die Schuld an allem bekam! Dass alle immer nur den bösen Leon in mir sahen, der anderen das Leben schwer machte. Oder es ihnen gleich ganz zerstörte.
Damit hätte ich mich doch schon längst abfinden müssen. Und an sich hatte ich das doch auch.
Spätestens seit diesem einen verfluchten Nachmittag damals am See, wo Ranja durchs Eis gebrochen war und alle behauptet hatten, ich sei Schuld daran. Als hätte ich das so gewollt!
Als hätte ich nicht noch versucht sie zu retten! Ich hatte es nicht geschafft! Ich war nicht schnell genug gewesen.
Alle hatten mich für das Unglück verantwortlich gemacht. Alle hatten mich so angesehen, als sei ich derjenige gewesen, der Schuld an allem war. Und taten es noch, bis heute.
Ich hatte mich damit abgefunden. Hatte akzeptiert, dass ich der Böse war. Dass ich nicht nur Schuld war an dem Tod von Eddies kleiner Schwester, sondern auch daran, was bei mir Zuhause passierte. Dass ich immer Schuld an allem war.
Es war nicht schön gewesen, aber ich hatte damit leben können.
Und dann hatte das mit Maria angefangen.
Die Probleme mit ihren Mitschülern. Ich hatte es bemerkt. Und ich hatte Maria dabei geholfen.
Auch wenn ich damit mehr als einmal riskiert hatte, von der Schule zu fliegen.
Ich hatte sie beschützt. War immer für sie dagewesen, so gut ich es eben gekonnt hatte. Und es hatte sich gut angefühlt.
Bei Maria war ich endlich mal nicht der Böse gewesen. Sie hatte mir die Chance gegeben, das Gute in mir zu zeigen. Ihr zu beweisen, dass man sich auf mich verlassen konnte.
Dass man mir vertrauen konnte.
Aber das hatte sie nicht.
Sie hatte mir nie etwas davon erzählt, dass ihr Vater sie geschlagen hatte. Dass er sie vergewaltigt hatte.
Sie hatte das alles für sich behalten. Und ich hatte es trotzdem herausgefunden. Weil ich genauer hingeschaut hatte.
War das so falsch gewesen? Hatte Maria ausgerechnet deswegen jetzt mit mir Schluss machen müssen?
Weil ich mich um sie gekümmert hatte?
Ein weiterer Bus kam angefahren, da wischte ich mir schnell die Tränen aus dem Gesicht und verließ das Wartehäuschen.
Keine Ahnung, wie lange ich da jetzt im kalten Wind gesessen und rumgeheult hatte. War auf jeden Fall lang genug gewesen, um mich dabei komplett durchfrieren zu lassen. Aber dafür hatte es wenigstens aufgehört zu regnen.
Die Sonne war inzwischen untergegangen, die Häuser entlang der Straße waren hell erleuchtet. Lichterketten schmückten die Vorgärten in warmes Licht und am Himmel konnte ich die Sterne sehen.
Ich liebte diese Zeit, wenn es abends früher dunkel wurde und alles um einen herum so gemütlich wirkte.
So friedlich. Das mochte ich, auch wenn ich wusste, dass es so etwas wie Frieden in Wirklichkeit gar nicht gab. Höchstens in diesen kitschigen Serien, die meine Mutter immer gerne guckte. In denen gab es zwar auch jedes Mal Probleme, nur wurden die am Ende jeder Folge gelöst und kurz vorm Abspann war immer alles wieder gut.
So einfach lief das im echten Leben nicht ab.
Im echten Leben zogen sich Probleme länger als über zwanzig Minuten. Einige dauerten Tage, andere mehrere Wochen an. Und manche verfolgten einen auch für immer.
Im echten Leben zog jedes Verhalten Konsequenzen nach sich.
Nannte mich jemand Penner, gab es was aufs Maul.
Zog ich mir eine Packung Pins und wurde dabei erwischt, holten sie die Bullen. So war das und das galt für jeden, ganz egal wie alt man war oder wie viel Geld man verdiente.
Auch Rehberg würde dafür bezahlen, was er getan hatte. Er würde vor Gericht gestellt und verurteilt werden. Und dann würde er in den Knast wandern.
Aber vorher würde ich ihm noch etwas geben.
Eine nettes kleines Andenken. Daran könnte er sich dann immer zurück erinnern, während er in seiner Zelle verrottete, dachte ich und grinste bei der Vorstellung daran, als ich das Haus von Rehberg erreichte. Jenes lag im Gegensatz zu dem Rest der Nachbarschaft in völliger Dunkelheit, in welcher ich gleich den dunkelgrünen Volvo ausmachen konnte, der an seinem angestammten Platz unterm Carport parkte.
Genauso wie ich es erwartet habe, dachte ich und unterdrückte ein Lachen; das war ja fast schon zu einfach.
Kurz überlegte ich, wie ich es anstellen sollte, dann kam mir auch schon eine Idee, zusammen mit der Feststellung, dass ich so langsam echt mal pissen musste.
Wie bitter, dass gerade in solchen Momenten nie eine Toilette in der Nähe war!
Mit Hilfe meines Messers war der Deckel schnell aufgebrochen. Noch ein kurzer Blick zu allen Seiten, dann zog ich den Reißverschluss meiner Hose auf, die Boxershorts ein wenig herunter und begann schließlich in die Tanköffnung zu pinkeln.
Als ich fertig war, kam noch mal das Messer zum Einsatz. Das eignete sich ja auch hervorragend zum Tätowieren und mit dem Tattoo hier würde ich mich diesmal ganz besonders ins Zeug legen. Das müsste richtig groß werden und in meiner besten Sonntagsschrift!
Dann haben auch alle was davon, dachte ich und setzte das Messer an, in der linken Hand mein Handy haltend, in welchem ich jetzt die Taschenlampe aktiviert hatte.
Das Geräusch, welches kurz darauf in meine Ohren drang, war laut und fast schon wie ein schrilles Kreischen.
Solche Töne wirst du bald auch noch von dir geben, wenn du erst mal einsitzt, überlegte ich. Immer dann, wenn gerade keine Wärter in der Nähe sind. Wenn sie dich alleine erwischen. Dann zeigen dir deine neuen Knastkumpels erst, was Schmerzen sind!
Dann wirst du begreifen, was du getan hast! Wenn du mit heruntergelassener Hose im Dreck liegst und um Gnade winselst! Dann wirst du das Ganze mal durch Marias Augen sehen!
Als ich mit meiner Arbeit fertig war, betrachtete ich das Ergebnis. Es war in großen Buchstaben geschrieben. Zog sich über die gesamte linke Seite des Fahrzeugs. Und brachte es auf den Punkt. Nur ein Wort:

Vogelscheuche und Gürtelschnalle - Teil 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt