3. Ist das dein Quasimodo-Freund?

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°○ Maria ○°

Ich hatte nichts frühstücken wollen. Gefragt hatte man mich natürlich trotzdem wieder gefühlte tausendmal.
Ein Wunder, dass ich überhaupt eine Tür hatte. So oft, wie die Betreuer hier ein und aus gingen, könnten sie die auch genauso gut weglassen. Was brachte einem denn überhaupt eine Tür, wenn man sie nicht abschließen konnte? Das war doch ein Witz!
Genauso wie die Regel, dass es bis zum Mittag nichts mehr zu essen gab, wenn man nicht bis spätestens zehn Uhr in die Küche gekommen war und gefrühstückt hatte. Das galt natürlich nicht für Tage, an denen es ein geschlossenes Frühstück gab. Da hatte man um Punkt Neun Uhr angezogen und gewaschen am Tisch zu sitzen.
"Und wer dann nicht kommt, muss eben bis zum Mittagessen warten", hatte Stella mir erklärt, als sie gestern nach dem Abendessen die Hausordnung mit mir durchgesprochen hatte.
Wollten die mich verarschen? Ich war es gewohnt, an manchen Tagen mit nur einer Mahlzeit auszukommen und an anderen auch ganz ohne Essen, je nachdem wie Vater das gerade wollte.
Vater.
Was er wohl gerade machte? Bestimmt hatte er gerade Sorge um mich. Wie gerne würde ich ihn jetzt bei mir haben. Würde ich von ihm fest in den Arm genommen werden, während er mir ins Ohr flüsterte, dass nun alles wieder gut werden würde. Aber was träumte ich da?
Es würde nie wieder gut werden.
Neben mir auf dem Nachttisch piepte Leons Handy. Das hatte Stella mich gestern ausnahmsweise über Nacht behalten lassen, weil ich gerade neu war. Und weil ich versprochen hatte, nicht damit meinen Vater anzurufen.
Normalerweise musste man sein Handy hier immer zwischen zweiundzwanzig Uhr und sieben Uhr im Büro abgeben.
Ich nahm das Handy, entsperrte es und warf einen Blick auf das Display. Ein verpasster Anruf von Mehmet und eine SMS.

LEON
hey süße😘
wie war deine erste nacht in der gruppe? hast du gut geschlafen? und hast du schon mit den anderen leuten geredet? sind die nett zu dir?
wir waren gestern noch im zoney. hab viel zu viel gesoffen. 😅🥴 hatte aber ja auch nicht meine süße aufpasserin dabei.😉😘 geht mir richtig beschissen gerade.😩 ich vermisse dich.🥺 gib mal deine adresse! ich will dich besuchen kommen. 😍🤗

Ich lächelte. So eine lange Nachricht hatte Leon mir noch nie geschrieben!
Aber das mit dem Vermissen war bestimmt nur so ein Spruch gewesen. Vermisst hatte mich in der coolen Runde da sicher niemand. Wahrscheinlich war eher das Gegenteil der Fall und Leon hatte sich gerade deswegen die Kante gegeben, weil ich ihn mit meinem ganzen Drama so sehr genervt hatte, dass er jetzt umso mehr froh darüber gewesen war, mich endlich los zu sein. Ein Wunder, dass er sich überhaupt noch bei mir meldete! Und dann wollte er auch noch die Adresse von dieser Anstalt für Bekloppte wissen! Um mich zu besuchen!
Als ob er das ernsthaft tun würde!
Ich dachte einen Moment lang nach, dann schrieb ich eine Antwort.

MARIA
hallo leon,
mir geht es gut.🙂 habe lange geschlafen. gestern war filmabend in der gruppe. die anderen sind ganz nett.
freut mich, dass ihr Spaß hattet. 🙂
die adresse:
Neuer Weg 285
berneburg

Was sollte ich auch ehrlich sein?
Das würde Leon nur wieder auf die Nerven gehen, wenn ich ihn volljammerte, von wegen ist alles scheiße, die anderen sind gemein zu mir und scheinbar völlig durchgeknallt und geschlafen hab ich höchstens auch nur zwei Stunden.
Wer wollte sowas hören?
Vermutlich hatte Leon mir auch gar nicht deswegen geschrieben, weil er wirklich wissen wollte, wie es mir ging, sondern nur um nett zu sein. Und das war an sich auch noch deutlich mehr, als ich erwarten konnte!
Das Handy piepte wieder.

LEON
🤔ich weiß ja nicht... hast du das jetzt nur so geschrieben, von wegen alles ist gut?
ich komm später mal rum.😘

Ich seufzte. Na toll, da schrieb ich Leon endlich mal, dass alles gut war und dann merkte er gleich, dass ich gelogen hatte. War ich denn wirklich so einfach zu durchschauen?
Es klopfte an der Tür - ja warum auch nicht, war auch schon ganze fünfzehn Minuten her seit dem letzten Mal.
"Maria?", fragte eine Frauenstimme, die klang eindeutig älter, als die von Stella.
Ich antwortete nicht. War denen ja sowieso egal, dass ich allein sein und niemanden sehen wollte!
Erneutes Klopfen, kurz darauf wurde die Tür geöffnet.
"Guten Morgen. Maria, richtig?" Eine Frau kam herein, die war etwa in ihren Vierzigern, etwas moppelig, trug schulterlange blonde Haare und eine Brille mit dicken blauen Rahmen auf der Nase.
"Hallo", sagte ich mit belegter Stimme und räusperte mich.
"Ich heiße Susanne." Die Frau hielt mir die Hand hin. "Aber du kannst ruhig Susi zu mir sagen. Das tun alle hier."
Ich schüttelte ihre Hand. "Bist du auch eine Betreuerin?"
"Ja", antwortete Susanne. "Ich arbeite hier schon, seitdem es die Gruppe gibt."
"Und heute hat sie Nachtdienst", sagte Stella. "Ich geh nämlich jetzt nach Hause."
Wie schön für dich, dachte ich bitter, das würde ich auch gerne. Aber mich fragte ja keiner!
"Wir sehen uns dann Morgen wieder." Stella zwinkerte mir zu.
"Okay", meinte ich.
"Tschüss Maria!"
"Tschüss!" Ich sah ihr hinterher, wie sie aus dem Raum ging und anschließend um die Ecke verschwand. Dann blickte ich auf zu Susanne oder Susi - wie auch immer ich sie jetzt nennen sollte, die hatte immer noch dieses schrecklich freundliche Lächeln im Gesicht sitzen, da könnte man schon meinen, es sei darin fest gewachsen.
"Hast du gut geschlafen?"
"Nein", antwortete ich.
"Dafür schläfst du dann heute Nacht doppelt so fest."
Das glaube ich ja eher weniger, dachte ich, verzog dann das Gesicht und nieste.
"Och hör, das klingt ja gar nicht gut!", meinte Susanne und legte mir eine Hand an die Stirn. "Bist du erkältet?"
"Ja... noch ein bisschen", meinte ich, schniefte und wollte mir dann mit dem Ärmel meines Schlafanzuges über die Nase wischen, doch Susanne hinderte mich daran.
"Nein, komm!" Susanne hielt meinen Arm fest und nahm dann das Paket mit Taschentüchern vom Nachttisch. "Zum Naseputzen benutzt du besser mal ein Taschentuch! Hier, bitteschön!" Sie reichte mir eins.
Ich zögerte etwas, dann nahm ich es, hielt es mir vor die Nase und schnäuzte mich.
"Magst du jetzt mal aufstehen und dich ein bisschen zurecht machen? Du siehst aus, als könntest du eine Dusche vertragen", sagte Susanne, die hatte sich derweil Leons Handy geschnappt, es entsperrt und war sowohl die Liste mit den Chats als auch die mit den letzten Anrufen durchgegangen. "In einer Stunde gibt es Mittagessen."
Ich zuckte die Achseln. War mir ganz egal, wann es Mittagessen gab, ob in einer Stunde, in drei oder gar nicht, das interessierte mich einen Scheiß!
"Alles klar? Dann brauchst du das nun ja erst mal nicht mehr", redete Susanne weiter und zog mir dann mit einem Handgriff gleich sowohl meine Decke als auch mein Kissen weg, schlang beide Arme darum und hörte dabei tatsächlich keine einzige Sekunde lang auf zu lächeln.
"Ich erwarte dich dann in..." Susanne warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. "...einer halben Stunde geduscht, angezogen und mit geputzten Zähnen im Büro", beendete sie ihren Satz und verließ dann zusammen mit meiner Bettwäsche das Zimmer.

Vogelscheuche und Gürtelschnalle - Teil 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt