Bodenlos

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Bodenlos

Wenn sie ihn nur dort liegen gelassen hätten.
Wo er mit seiner Nasenspitze den Wolken so nahe gewesen war.
Sie waren auch nicht weiß gewesen, weil nichts weiß war.
Er wurde hochgehoben. Aber nicht zu den Wolken.
Er schloss die Augen. Wollte sie nie mehr öffnen.
So einfach war das mit dem Sterben nicht.
„Wir fliegen Sie zurück."
Eine scheinbar längst vergessene Sehnsucht flammte in ihm auf. Er sah das Reihenhaus. Die Blumenkästen blühten. Weit in der Ferne. Als er den Blick über die Schulter warf, sah er die Panzer wenden. Sie fuhren weg. Niemand beachtete ihn. Wieder starrte er auf das Reihenhaus. Viele Fenster waren geöffnet. Vorhänge wehten. Nur dort im dritten Stock nicht. Dort waren alle Rollläden heruntergelassen. Er wusste, dass dort die ordentliche Wohnung auf ihn wartete.
Dort in Deutschland.
Er stand auf der Brücke. Er musste nur hinübergehen. Nur hinübergehen und das Morden und Sterben, die Kämpfe hinter sich zurücklassen. Musste nur den Sand aus den Haaren schütteln, seine Uniform abstreifen.
Die deutsche Flagge am anderen Ende. Gar nicht weit. Nur seine Beine. Seine Beine waren kurz. Zu kurz. Ein Fuß. Noch ein Fuß. Einer und noch einer. Einen Schritt. Und noch einen. Und noch einen. Der letzte. Schwarzer Teer knirschte mit den funkelnden Zähnen. Der Boden versank. Er hatte es nicht geschafft. Fallen. Immer tiefer. Nur fallen. Irgendwann muss er unten sein. Sein Körper auf den Gleisen darunter aufkommen.
Laut. Knall. Ein Zug.
Kein Zug.
Ein Abzug. Gewehre. Über ihm. Unter ihm.
Gleise. Gleise. Gleise?
Keine Gleise.
Nichts.

Gleißendes Licht. Von oben. Von allen Seiten. Hell und kalt. Sterilisierter Geruch. Beißend und Brennend in der Nase und in den Augen. Rasselnder Atem. Sein rasselnder Atem. Schmerzen. Im Rücken. Im Kopf.
Menschen in weißen Kitteln mit Mundschutz und Handschuhen, die auf ihn herabsahen.
„Sie haben einen Splitter im Rücken."
Ich bin von der Brücke gefallen, dachte er, der Brücke, die eingestürzt ist.
„Granatensplitter"
Granaten.
Minen. Ernste Mienen. Er war Soldat gewesen. Er ist Soldat. Ausbildung. Jahrelang ohne Aufgabe. Dann Einberufung. In den Osten. Osten ist eine Himmelsrichtung. Osten ist nichts Fernes. Osten ist Sand. Und Blut. Taliban.
Er ist Soldat.
Zu Befehl. Munition scharf? Munition scharf. Handgemenge. Hände, die die schweren Kapseln in die Vorrichtung hieven. Verzerrte Grimassen. Alles in Position. Er legt die Hand an den Auslöser. In den Kopfhörern bellt der Offizier Befehle. Neben ihm sein Freund und Kamerad Gabriel, der sich die Nase reibt. ,Sieh nicht hin!', hatte er gesagt.
Augen. Kalte Augen. Kälter als der Winter.
Dort war der Winter nicht kalt gewesen.
Immer Sand.
Sand in den Augen. Sand in der Nase. Sand unter den Füßen. Sand im Essen. Sand in der Waffe. Sand wie Schnee. Sand, der sich über Spuren und tote Körper legt bis nichts mehr davon zu sehen ist.
Zu Befehl.
Deckung. Achtung.
'Sieh nicht hin! Sieh auf gar keinen Fall hin', wiederholt Gabriel und dreht das kleine Foto einer jungen Frau in seinen Händen. Dreht es auf die Rückseite, wo ihr Name steht. Magda. Ungewöhnlicher Name für eine Frau.
‚Sieh jetzt nicht hin, Kamerad!', spukt Gabriels Stimme durch seinen Kopf.
‚Machen wir sie fertig!' Irgendwo neben ihm schüttelt jemand die Faust und lacht. Tief und grölend.
Er hat hingesehen.
Er hat das Blut gesehen. Hat gesehen, wie die Hütten zerrissen wurden, die Reste davon überall verteilt. Ihre blutenden Körper. Kleine und Große. Schreie. Sie rennen aus den Trümmern. Verletzt und verängstigt. Sie wollen fliehen. Und fliehen ins Gewehrfeuer seiner anderen Kameraden. Schreie. Schüsse.
Es bleibt niemand übrig.
Er hat es gesehen.
Er wendete sich zu seinen Kameraden. Beißt sich fest auf die Lippe. So fest, dass es weh tut. Gabriel legt ihm den Arm um seine Schultern.
Keine Worte.
Er weiß es. Er hat sie umgebracht. Die Menschen, die ihm nie etwas getan haben. Die Menschen, die er nie gesehen oder gekannt hat. Einfach umgebracht. Du bist ein Mörder!
Schmerzen. Explosion mit hellem Licht.
„Können Sie mich hören?"
Ohren.
Ein Ohr links. Ein halbes rechts. Klingeln. Klopfen. Knall. Nichts.
„Sofort in den OP-Saal!"
Operation.
Blut.
Operation. Streng geheim. ‚Treffen mit den Jungs aus Amerika!' Der Offizier hatte ihn angegrinst und ihm auf die Schulter geklopft.
Nenn-mich-James, das Wappen mit den Sternen und Streifen auf der Schulter. Nenn-mich-James mit seinem Lachen. Nenn-mich-James und das Heroin. Heroin, das alles schöner machte. Leicht machte es ihn. Nahm ihm Erinnerung, vermischte Angst mit Freude und Reue mit dem letzten Rest Begeisterung.
Nenn-mich-James hatte viel davon. Kameraden.
Zu Befehl.
Achtung. Deckung. Amerikanisch.
Gezündet.
‚How many?' Sein Englisch war nie gut gewesen.
‚Don't count...' Nenn-mich-James Lachen, als er einen Stein in den Himmel wirft.
Taliban. Niemand zählte die Opfer. Niemand, der sie identifizierte.
Er zählte sie. Er zählte sie, die er umbrachte. Du bist ein Mörder!
Du bist ein Mörder!, spucken ihre toten Augen ihm entgegen. Du bist ein Mörder!, steht mit Blut auf ihren Gliedmaßen.
Er sieht sie. Er sieht sie, wenn er nachts die Augen schließt. Er sieht sie, wenn er nachdenken will. Nie geben sie Ruhe. Du bist ein Mörder!

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⏰ Letzte Aktualisierung: Feb 15, 2015 ⏰

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