Ich habe länger geschlafen als gewöhnlich. Das weiß ich, sobald ich meine Augen öffne und in Richtung des Fensters schaue. Aber gewöhnlich habe ich auch am Vortag keine Aufnahmen für theVoice und werde dann von meinem besten Freund um ein Date gebeten. Bei dem Gedanken daran muss ich sofort wieder lächeln. Ich beschließe, einen Blick auf die Uhr zu wagen und dann zu entscheiden, was ich mit meiner Zeit anfange. Immerhin muss ich um drei in der Bar sein, um dort auf das restliche TeamNico zu treffen. Mit einem Blick auf den Wecker stelle ich fest, dass es dreiviertel neun ist. Das ist zumindest ein wenig später, als ich normalerweise aufwache, aber wirklich lang geschlafen habe ich trotzdem nicht. Da es bis zehn Frühstück gibt und ich bereits richtig Hunger habe, beschließe ich, mich jetzt nur kurz frisch zu machen und dann erst einmal etwas essen zu gehen. Duschen würde ich dann später bevor ich zum Teamtreffen muss. Ein kurzer Blick auf Lexas Stundenplan bestätigt mir, dass ich am Besten zur Mittagszeit bei ihr anrufe, weil sie vorher noch Vorlesungen hat. Gott sei Dank ist sie nach diesem Semester auch fertig mit dem Studium, dann brauche ich nicht mehr jedes halbe Jahr einen neuen Plan zu lernen. Ich ziehe mich also an und kämme meine Haare, bevor ich mit dem Handy in der einen und meiner Zimmerkarte in der anderen Hand zum Frühstück gehe. Unterwegs treffe ich zwei Jungs, die mir von gestern Abend ziemlich bekannt vorkommen, sie müssen also auch in TeamNico sein. Die beiden waren wohl ziemlich vertieft in ihr Gespräch, denn mein fröhliches "guten Morgen ihr zwei" erschreckt sie ziemlich.
"Hey, du bist Lilly, oder?", fragt einer der beiden und streicht sich seine schulterlangen Haare zurück. Sein Kumpel stößt ihn unsanft in die Seite und guckt ihn böse an.
"Mann, Jonas. Das ist echt unhöflich.", sagt er und wendet sich dann an mich, "Tut mir leid, das ganze Team spricht über dich. Da kommt man nicht drumrum, dich zu kennen. Ich bin Mael und mein unhöflicher Freund hier ist Jonas." Da erinnere ich mich. Ich hatte gestern das Battle der beiden gesehen: "Ihr habt gestern Aicha gesungen, oder? Das war richtig stark."
Und das meine ich genau so. Nico hatte mich gestern in der Generalprobe gebeten, dem Battle der beiden zuzuhören, weil er nicht 100% zufrieden war. Aber das hat sich von selbst erledigt, weil die beiden wohl so lang an ihrer Performance gebastelt hatten, bis es perfekt war. Sie sind also absolut zurecht hier. Gemeinsam gehen wir in Richtung des Essensraums und unterhalten uns ein wenig über das Team. Gott sei Dank gehören die beiden wohl nicht zu denjenigen, die glauben, ich wäre zu Unrecht hier und ich bin froh, dass ich die beiden jetzt schon getroffen habe, bevor es heute Nachmittag in die Höhle der Löwen geht. Zu meiner großen Überraschung sitzt Nico bereit an einer der vier Tische, die mich an die Haustische in Harry Potter erinnern, und ist vertieft in seine Notizen. Ich beobachte einen Moment, wie er sich konzentriert auf der Lippe herumkaut und sich verzweifelt durch die Haare fährt. Auch, wenn ich es von der Entfernung nicht sehen kann, weiß ich, dass sich auf seiner Stirn eine kleine Falte bildet - wie immer, wenn er vom Perfektionismus getrieben hochkonzentriert an etwas arbeitet, aber den scheinbaren Fehler nicht findet.
Ein Ellenbogen, der mir nicht ganz sanft in die Seite gerammt wird, unterbricht meinen Moment der Schwärmerei. Erschrocken und ertappt schaue ich wieder zu Mael und Jonas, die sich offensichtlich das Lachen verkneifen müssen. Bei den Blicken der beiden, muss einer von ihnen eine Frage gestellt haben, die ich verpasst habe. Fragend ziehe ich also die Augenbraue.
Jonas wiederholt, was ich verpasst habe: "Und welches Liebeslied singst du? Und vor allem: Wann seid ihr endlich ein Paar?"
Ich kann ihm nicht antworten. Stattdessen nehme ich mir am Buffet eine Schüssel und fülle sie mit Obst. Ich lächle, als ich sehe, dass neben dem Joghurt ein Behälter mit Schokostreuseln steht und gebe von beidem eine großzügige Menge mit in meine Schüssel. Jonas schnipst währenddessen immer wieder vor meinem Gesicht herum und versucht, eine Antwort aus mir herauszukitzeln. Doch ich schüttle nur immer wieder den Kopf und hülle mich in Schweigen, während ich auf den Tisch zugehe, an dem Nico noch immer sitzt.
Nach dem gefühlt tausendsten "Bitte, Lilly, sag schon" platzt mir der Kragen: "Nein, verdammt! Es gibt Sachen, die gehen niemanden etwas an. Ich kenn euch jetzt seit fünf Minuten, was erwartest du? Dass ich dir meine Lebensgeschichte und meine tiefsten Gefühle auf die Nase binde?! Du wirst dich genau so gedulden müssen wie alle anderen, also lass mich bitte einfach frühstücken verdammt!" Ich schreie nicht, aber mein Tonfall macht unmissverständlich klar, dass er eine Grenze überschritten hat. Vielleicht war das auch ein bisschen hart. Aber er hat es definitiv provoziert. Er ist mir so wahnsinnig auf die Nerven gegangen, obwohl wir uns kaum kennen. Und ich habe Hunger. Hauptsächlich habe ich Hunger und deshalb wahrscheinlich ein wenig überreagiert, aber dafür werde ich mich erst entschuldigen, wenn ich etwas gegessen habe.
"Tut mir leid, du hast Recht", sagt Jonas plötzlich. Ich habe gar nicht mitbekommen, dass er immer noch neben mir geht. Noch überraschter bin ich über die Entschuldigung.
"Ist schon Ok", ich lächle ihn vorsichtig an, während ich meine Schüssel auf den Tisch stelle, "meistens bin ich nicht so explosiv. Ich bin nur ziemlich hungrig und immer noch etwas müde."
"Und Jonas war extrem nervig. Also stresst euch nicht so ihr zwei.", wirft Mael ein und setzt sich hin.
Schweigend essen wir unser Frühstück und ich nutze die Gelegenheit, um Nico ein wenig zu beobachten. Er scheint die Lösung für sein vorheriges Problem gefunden zu haben, denn mittlerweile hat er sein Notizbuch zur Seite gelegt und frühstückt ebenfalls. Über den Rand meiner Tasse Kakao hinweg sehe ich ihm dabei zu, wie er in seinem Müsli rührt und sich eine Erdbeere in den Mund schiebt. Sein Blick wandert immer wieder durch den relativ leeren Raum, bis er bei mir hängen bleibt. Fragend legt der den Kopf schief und wirft einen -zumindest für mich- eindeutigen Seitenblick auf Mael und Jonas. Ich schmunzle über seine Besorgnis - er sollte doch am Besten wissen, dass ich auf mich aufpassen kann. Dann schüttle ich den Kopf zur Verdeutlichung, dass die beiden keine Gefahr sind. Klar, Jonas hat mich eben ziemlich genervt, aber er meint es nicht böse, da bin ich mir sicher. Außerdem muss er sich nach meiner Abreibung nicht auch noch einen Vortrag von Nico anhören, das wäre nicht fair. Kurz wende ich die Augen von meinem besten Freund ab, um mir einen weiteren Löffel meines Frühstücks in den Mund zu schieben und einen strafenden Blick in Richtung Mael und Jonas zu werfen. Ich habe genau gehört, dass die beiden darüber getuschelt haben, wie süß wir doch wären und, dass es wirklich nicht mehr lange dauern kann, bis Nico und ich ein Paar sind. Als neben mir ein Stuhl zurückgezogen wird, drehe ich überrascht den Kopf.
"Hey, mi corazon.", Nico grinst mich an. Auch er ist müde, das sehe ich. Aber im Gegensatz zu mir, ist er unausgeschlafen keine kleine Zicke. "Hab gehört, der Hunger ist vorher wieder mit dir durchgegangen." Leicht beschämt schaue ich zurück auf meine Schüssel. Ich hatte so gehofft, dass das niemand mitbekommen hat. Klar, dass ihm das nicht verborgen bleiben konnte. Er bekommt immer alles mit.
"Ich hab es aber auch wirklich drauf angelegt", wirft Jonas ein und Mael nickt unterstützend. Ein dankbarer Blick meinerseits.
Nico grinst und fragt dann: "Was machst du nachher? Naja, bevor wir alle uns um drei in der Bar treffen."
"Ich möchte Lexa anrufen. Sie muss mir schließlich sagen, dass sie es immer gesagt hat.", gespielt genervt verdrehe ich die Augen. Dann müssen Nico und ich gleichzeitig Lachen.
"Richte ihr liebe Grüße aus. Und, dass sie sich keine Sorgen um dein Outfit machen soll, ich hab alles unter Kontrolle."
Nico ist sich sicher, dass ich Lexa in allen Details von gestern Abend erzählen und vor allem bei dem Part, in dem er mich nach einem Date fragt, nicht an Ausführlichkeit sparen werde. Und er hat kein Problem damit. Vielmehr akzeptiert er die enge Verbindung zwischen mir und meiner besten Freundin und gibt sich alle Mühe, dass die beiden sich auch gut verstehen. Ein Punkt mehr auf der Liste mit Gründen, warum ich ihn liebe.
DU LIEST GERADE
I'll be your wings to fly
ФанфикNach einem harten Schicksalsschlag, der ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt hat, wird Lilly von ihrer besten Freundin dazu überredet, sich auf neue Menschen einzulassen. Nie hätte Lilly damit gerechnet, dass sie mehr findet als einen neuen besten...