Kapitel 3

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AZRIEL

Die kalte Nachtluft war so scharf wie ein Schwert. Sie traf meine Haut mit einer Brutalität, die mir an anderen Tagen unangenehm aufgefallen wäre. Doch heute, in dieser Nacht, flog ich sogar noch höher. Flog durch noch tiefere Temperaturen. Hieß die schneidende Luft willkommen. Sie war angenehmer als die Träume, die in meinem Kopf noch einen Nachklang hatten.

Als ich mitten in der Nacht aufgewacht war, hatte ich instinktiv die Flügel ausgebreitet und war geradewegs in die Luft geschossen. Ich hatte nicht darüber nachgedacht, ob die luftige Kleidung, die ich trug, für eine solch kalte Nacht ungeeignet wäre. Ob ich nicht frieren würde, da ich doch weder Socken noch Schuhe trug. Doch sobald ich erst einmal aus dem immer enger werdenden Zimmer raus war, die Flügel ohne jegliche Hindernisse schlagen konnte, war jede Sorge verstrichen. Es gab nur noch die Dunkelheit der Nacht, die sich wie eine schützende Decke über mich legte. Und die Nachtluft, die mich wie eine Mutter wiegte. Zumindest war darauf verlass.

Velaris war bei Nacht noch viel schöner als bei Tag. Die Sterne waren klar am Himmel zu sehen und beleuchteten sogar die dunkelsten Ecken der Stadt. Es musste kein Licht in den Fenstern brennen, damit man die Schönheit des Hofes der Träume sehen konnte. Die Lichter der Sterne und die Dunkelheit der Stadt waren seine Schönheit. Und genau so wie mich das Fliegen beruhigte, so war auch der Anblick von Velaris wie Balsam für meine Seele.

Auf den Straßen war kaum ein Fae. Hier und da erkannte ich dunkle Flecken, die sich bewegten. In manchen Fenstern waren die Umrisse von Fae zu sehen. Auf einem Balkon war sogar eine Gestalt zu erkennen, die mit ihrem Blick meiner Silhouette zu folgen schien. Ich konnte nicht erkennen, wer es war. Vermutlich hätte ich es beim Anblick seines oder ihres Gesichts auch nicht gewusst. In diesem Viertel der Stadt hatte ich kaum Bekanntschaften gemacht. Zumindest keine freundschaftlichen. Hier wohnten zumeist die Ratsmitglieder und High Fae der Stadtverwaltung. Mit bürokratischen Dingen hielt ich mich eher weniger auf. Meine Musik spielte hinter den Kulissen.

Ist hier jemand? Die Worte hallten in meinem Kopf nach. Die Stimme in meinem Traum hatte mich so sehr erschreckt, dass ich spürte, wie sich die Schatten aufluden. Es war so, als hätte ich jegliche Kontrolle über meine eigene Macht verloren. Die Schatten hatten nach mir gegriffen, hatten mich gepeitscht und ihre Elektrizität an meinem Körper entladen. Sie hatten nichts mehr von der angenehmen Sänfte, die ich normalerweise bei ihrer Berührung verspürte. Und irgendetwas in mir hatte mir gesagt, dass die Stimme dafür verantwortlich war. Diese schöne, angenehme Stimme. Sie hatte meine Schatten durcheinander gebracht.

Ich erschauderte und meine Flügel zuckten in der Luft. Es war nur ein Traum, versuchte ich mich zu beruhigen. Im Gegensatz zu meinen anderen Träumen hatte dieser tatsächlich den Anschein, dass es nichts weiter als eine Illusion meiner eigenen Gedanken war. Es war wirklich nur ein Traum, so real er sich auch angefühlt haben mochte.


Ich landete auf der großen Terasse des Hauses der Winde. Mein Blick richtete sich starr auf die unten liegende Stadt, die noch genauso ruhig war wie bei meinem Flug. Der Mond hatte schon begonnen, sich zurückzuziehen. Die Stadt lag aber immer noch in der Dunkelheit der Nacht. Bis zum Morgen war noch etwas Zeit. Ich bezweifelte aber, dass ich diese Nacht noch Schlaf finden würde. Seufzend drehte ich mich zum Haus um. In den Schatten war eine Gestalt mit Flügeln zu sehen. Anscheinend war ich nicht der einzige, der nicht schlafen konnte.

"Cass", sagte ich und ging einige Schritte auf ihn zu. Er richtete seinen Blick auf mich, sagte aber kein Wort. Stattdessen hörte ich nur ein erschöpftes Seufzen, ehe er den Kopf schüttelte. Ich wusste nicht, ob er noch etwas sagen würde oder nicht. Dennoch blieb ich still.

Der Ruf des SchattensängersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt