33 | Dornen im Herzen - Part I

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Die Friedenswächter tauchen wie aus dem Nichts auf. Binnen Sekunden sind sie an Annies Seite, jagen ihr eine Nadel in den Arm und heben sie, abgeschirmt von den Blicken des Publikums, hoch. Die Kameras halten beharrlich auf die jubelnde Masse unten auf dem Korso, die wie ein buntes Meer wogt. Sie feiern das Ende des Blutbads, dessen letztes Opfer Edy war.

Finnick ist auf den Beinen, als die meisten Mentoren um ihn herum noch gar nicht begriffen haben, was geschieht. Ihre Blicke sind festgesaugt an der Leinwand, auf der die Karrieros alle Opfer des Kampfs zusammentragen. Er hingegen sieht nur Annie, die schlaff zwischen den weiß gekleideten Soldaten des Kapitols hängt, das Gesicht so bleich wie ihre Uniformen.
Protestierend versucht er, die Männer zu überreden, sie loszulassen. Die Friedenswächter beachten ihn nicht. Annies Blick trifft seinen, aber in ihren Augen ist nur Leere, die mit eisigen Fingern nach seinem Herzen greift. Ihr eigenartig hohes Lachen klingelt in seinen Ohren. Das ist nicht mehr seine Annie.

Die Sitzreihe ist zu eng, sodass er nicht schnell genug zu ihr gelangt und die Männer wenden sich schon zum Gehen. Finnick macht das Einzige, was ihm bleibt. Er schreit, so laut er kann.
„Lasst sie los!" Bei dem Klang seines Zorns dreht sich die Reihe vor ihnen um. Er hört leises Getuschel, doch es ist ihm egal. „Sie hat nichts getan, lasst sie runter!"
Einer der Friedenswächter kehrt sich zu ihm. „Mr. Odair, setzen sie sich!" Seine Stimme ist beherrscht, aber die Worte sind scharf wie die Waffen, mit denen sich die Tribute bis eben bekriegt haben. „Sonst müssen wir sie auch entfernen."

Floogs steht jetzt ebenfalls, zwischen Finnick und den Soldaten. Beschwichtigend hebt er die Hände und versucht, sie davon zu überzeugen, Annie in seiner Obhut zu lassen. Aber die Männer hören ihm gar nicht zu, sondern arbeiten sich rückwärts durch die Reihe, in Richtung Ausgang. Von Annie in ihrer Mitte ist kein Schrei mehr zu vernehmen. Was immer sie ihr gespritzt haben, es muss stärker als die mächtigste Dosis Morfix sein. Weitere Friedenswächter tauchen an den Treppen auf. Sie sind unbewaffnet, doch ihre alleinige Präsenz sorgt dafür, dass die übrigen Mentoren sich hastig von der Szene abwenden, zurück zu Flickerman und Templesmith. Keiner traut sich, etwas zu unternehmen. 

Finnick ignoriert die leisen Rufe seines Teams und drängt sich an ihnen vorbei zur Treppe. Er hört Ceces entsetztes Luftschnappen und hektisch klickende Absätze hinter sich. Dadurch angespornt nimmt er immer zwei Treppenstufen nacheinander, bis er den Ausgang erreicht. Zum Glück sind ihre Stöckelschuhe so unerhört hoch und ihr Rock so eng, dass sie ihn nur mit Trippelschritten verfolgen kann.
Ein letzter Blick auf die Leinwand zeigt ihm die Karrieros und Cordelia, vor einem aufgetürmten Berg Leichen. Sie wird klarkommen, irgendwie. Alle seine Gedanken gelten Annie. Cece ruft seinen Namen, doch er hält geradewegs auf den Friedenswächter zu, der vor dem Ausgang Position bezogen hat. 

Wie erwartet stellt sich dieser ihm in den Weg. „Die Eröffnungszeremonie ist nicht beendet."
„Das sehe ich, aber Sie können doch sicher eine Ausnahme machen. Dort", Finnick wedelt mit der Hand in Richtung der riesigen Leinwand, „passiert eh nichts mehr und ich muss mir nur kurz die Beine vertreten." Mit seiner letzten Kraftreserve gelingt es ihm, dem Mann gewinnend zuzuzwinkern. 
„Meine Anweisungen sind klar und deutlich. Niemand verlässt die Feier, bevor der Präsident sie nicht beendet hat." Wie aus einem Roboter kommen die Worte von dem Friedenswächter. Er sieht Finnick nicht einmal an. Die Geduld am Ende, strengt dieser sich an, die Hände nicht zu Fäusten zu ballen.

„Ich glaube nicht, dass Präsident Snow hiervon je erfahren wird. Nicht, wenn sie es ihm nicht sagen." Den Mund zu einem falschen Grinsen verzogen legt er den Finger an die Lippen. „Ich behalte es jedenfalls für mich."
Endlich wandert der Blick des Manns kurz zu ihm. Hellblaue Augen, wie so viele in Distrikt zwei. Mit den strohblonden Haaren und Aknenarben im Gesicht sieht er definitiv nicht aus, wie ein Sohn des Kapitols. Trotzdem hier zu dienen ist eine Anerkennung, ebenso wie die Abzeichen, die an seiner akkurat gebügelten Paradeuniform glänzen.
„Setzen Sie sich", sagt er harsch und wendet die Augen wieder ab.
Ein braver Schoßhund von Snow also, denkt Finnick bitter. Lächeln und Schmeichelei stoßen auf taube Ohren, anders als bei Wächtern wie Edmont. Die Sprache von Distrikt zwei spricht er aber genauso. Betont lässig tritt er einen Schritt näher an den Mann heran.

Meeressturm | Annie CrestaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt