Im Winter solle sie das Kapuzineräffchen nicht aus dem Käfig lassen. Das waren die letzten Worte, die Lia's Großmutter ihr auf dem Sterbebett mit auf den Weg gab. Schon merkwürdig, wo Lia doch weder Käfig noch Kapuzineräffchen besitzt. Naja, so wirklich bei Sinnen war die alte Dame in ihren letzten Tagen auch nichtmehr.
Lia blickt aus dem Fenster. Die Autos am Straßenrand sind von einer dicken Schneeschicht bedeckt, Fußgänger schlittern über die Straßen und werden gelegentlich von vorbeikommenden Lastwägen erfasst. Die Lastwägen sind gut bereift, es sind die unter der Ladefläche befestigten Steuergeräte, die sie dazu bringen, die Fußgänger glattzubügeln.
Ein Blick ins gegenüberliegende Fenster entlarvt auch schon den Übeltäter. Murphy ist ein bösartiger kleiner Kerl, aber wer kann ihm das schon verübeln, immerhin wurde er nach seiner Geburt von einem Storch entführt und musste ganz ohne Eltern aufwachsen, zumindest, wenn man ihm die Geschichte glauben mag. Da ruft ihn seine Mutter auch schon zum Frühstück.
Lia wendet ihren Blick vom Fenster ab. Die 32 jährige hat einen langen Tag im Vogelhaus vor sich. Sie schnappt sich ihre vom Vortag durchnässte Jacke und macht sich auf den Weg. Ihren Roller lässt sie bei diesem Wetter lieber in der Garage, etwas Bewegung tut ihr aber sowieso ganz gut.(Auf dem Weg zum Vogelhaus)
Nach einigen Metern stoppt Lia plötzlich. Wo ist es? Das kann nicht sein. Sie sieht sich panisch um. Es ist nicht hier. Ihre Atmung wird hektischer. Sonst war es doch immer HIER! Ein Passant geht einen Schritt zurück, als sie ihm das feuchte Innenfutter ihrer Jackentasche unter die Nase hält.
Kann ich helfen?
Nein, geh weiter, geh!
Irritiert geht er weiter.
Lia wird schwarz vor Augen.Als sie wieder aufwacht setzt Lia sich auf eine Bank am Rande des Fußgängerweges, sie fasst sich ans Herz, ihr Puls hat sich etwas beruhigt. Gut.
Nach einer Weile macht sie sich schließlich auf den Rückweg. Zuhause angekommen hängt sie Ihre Jacke an die Kommode und entdeckt ihr Handy auf der Fensterbank. Da ist es also! Lia schnappt sich ihre am Vortag getrockenete Jacke und macht sich auf den Weg.Am Ziel angekommen zerrt sie eine Leiter aus dem Gebüsch und steigt aufs Dach des doppelstöckigen Gebäudes. Sie schiebt eine kleine Kiste beiseite und verschafft sich so Zutritt.
Die Birnen sind noch immer defekt, also schleppt sich der alte Billy mühsam die rostigen Treppen des Leuchtturms hinauf. Er mochte zwar ein Triebtäter sein, aber seine Jungs ließ er nie im Stich. Er wechselt die Birnen des riesigen Strahlers und lehnt sich geschafft über das Geländer.
Lia schaltet den Fernseher aus. Die Vögel brauchen Ruhe.
Rasch zieht sie die Vorhänge auf, fährt die Rechner hoch und begibt sich ins untere Stockwerk - Die Wellensittiche sind heute schon wach und fliegen fröhlich von Wand zu Wand und wieder zurück zur Wand.
Lia tritt sich die Schuhe ab und krabbelt grazil durch die kreisförmige Öffnung ins Vogelhaus.