Widerstand

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Whiteshaw sah ihr an, dass sie über seinen Vorschlag nachdachte und glaubte sich am Ziel. Dann legte er ihr den Arm um die Taille, eine besitzergreifende Geste, die sie zuließ. Seltsamerweise fühlte sie auch nichts, höchstens Erstaunen über ihren Mangel an Emotionen, als würde sie sich von außen beobachten und hätte selbst mit der ganzen Situation nichts zu tun. Sie würde alles in Ordnung bringen können, sich selbst opfern um Richards Leben retten. Whiteshaw zog sie überraschend sanft an sich, strich mit kühlen Fingern über ihre Wange und sie empfand noch immer nichts. Er küsste sie.

Vielleicht hatte er geglaubt, ihr die Entscheidung mit diesem Kuss leichter zu machen, sie vollends zu überzeugen, und gewissermaßen gelang ihm das, aber anders als er sich erhofft hatte. Denn plötzlich erwachte sie aus ihrer seltsamen Starre und die Erinnerung an die beiden anderen ungewollten, erzwungenen Küsse brach wie eine Flutwelle über Samantha zusammen. Abscheu, Ekel und Wut stiegen in ihr hoch und sie begann, sich in seinen Armen zu winden, als wäre sie ohne Sauerstoff unter Wasser und müsse sich frei strampeln, um atmen zu können. Whiteshaw hatte sie manipuliert, aber niemals würde sie sich auf diese Weise opfern können, nicht einmal für Richard. Aber je stärker sie sich wehrte, umso fester hielt er sie. Er verlor die Geduld mit ihr und sein Kuss wurde so grob, dass sie Blut schmeckte. Whiteshaw war kein bemitleidenswerter Mann, der ein gebrochenes Herz nie überwunden hatte. Er war ein selbstverliebter, manipulativer Mistkerl, der sich nahm, was er wollte.

Samantha wusste, dass er sie diesmal nicht würde davon kommen lassen. Er hatte sich bereits am Ziel gewähnt, denn sie zu besitzen wäre die Krönung seiner Rache, und ihr Widerstand reizte ihn dadurch umso mehr. Aber sie war nicht wehrlos. In ihrem Ärmel hatte sie einen kleinen Dolch mit schlanker, spitzer Klinge und versilbertem Griff versteckt. Die kleine Waffe gehörte Hetta. Sie hatte Samantha erzählt, dass sie ihn in Spanien stets bei sich getragen hatte und ihn auch einmal gegen einen betrunkenen Guerillero eingesetzt hatte, aber seit sie in Ferywood war, fand er nur noch als überdimensionaler Brieföffner Verwendung. Samantha hatte ihn am Morgen aus Hettas Schreibschatulle im Salon genommen, ehe sie aufgebrochen war.

Samantha erschlaffte in Whiteshaws Armen und ergab sich seinem brutalen Kuss und weil er glaubte, ihren Widerstand gebrochen zu haben, lockerte er seinen Griff etwas. Sie nutzte die Gelegenheit, um den Dolch aus ihrem Ärmel zu ziehen. Aber einen Dolch zu halten und ihn auch zu benutzen, während man festgehalten wurde, waren zweierlei Dinge. Sie versuchte, ihm den Dolch in den Körper zu rammen, aber sie durchdrang nicht einmal den Stoff seines Rocks, weil sie abrutschte und in ihrer Position nicht genug Kraft einsetzen konnte. Whiteshaw merkte, dass sie irgendetwas vorhatte, auch wenn er die Waffe in ihrer Hand zunächst nicht sah, und ließ kurz von ihr ab. Jetzt hatte sie Gelegenheit, ihm den Dolch ins Herz zu rammen. Sie holte weit aus und stach zu. Sie spürte, wie die Klinge den Stoff durchdrang, etwas tiefer in sein Fleisch eindrang und dann auf einen Widerstand stieß. Wenig frisches Blut besudelte seinen flohfarbenen Rock und er stieß einen Schmerzenslaut aus, aber sie hatte die Kraft, die es kostete, einen Menschen ernsthaft zu verletzen, unterschätzt. Die Klinge war weit weg von seinem Herzen von seinem Brustbein abgelenkt worden. Es war nur eine oberflächliche Fleischwunde. Whiteshaw, der schmerzhaft und überrascht keuchte, starrte sie eine Sekunde lang nur mit geweiteten Augen an. Dann griff er nach ihrer rechten Hand und wollte ihr gewaltsam den Dolch entwinden, aber Wut und Verzweiflung beseelten ihren Kampfgeist. Sie trat ihn mit ihrem Reitstiefel gegen das Schienbein und er fluchte, aber ihre Gegenwehr lenkte ihn gerade so lange ab, bis sie die Hand mit dem Dolch freibekommen hatte und erneut zustecken konnte. Sie traf ihn eher zufällig zwischen Hals und Schulter, war überrascht, wie leicht und wie tief die Klinge plötzlich eindrang, und als sie die Klinge mit einem schmatzenden Geräusch, das sie erschaudern ließ, zurückzog sprudelte Blut aus der Wunde und färbte sein strahlend weißes Halstuch schnell rot und seinen flohfarbenen Rock dunkel.

In Love and War - Geheimnis um FerywoodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt