Kapitel 12

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MELANY

Seit dem Tee im Stadthaus waren drei Tage vergangen. Ich hatte wieder angefangen im Archiv zu arbeiten, traf mich bisher ein weiteres Mal mit Nesta zum Frühstücken und hatte im Grunde zurück in meinen Alltag gefunden. Es war, wie als wäre Virion nie da gewesen. Selbst die Träume in der Nacht waren genau so, wie immer.

Die kühle Nachtluft von Velaris umspielte meine Haare während ich auf dem Balkon stand. Ich sah über das Ratsviertel hinweg, das zu dieser späten Stunde in Dunkelheit gehüllt war. Selbst die Sidra rauschte nur leise vor sich hin, wie als würde sie schlafen. Alle schliefen - außer ich. Noch immer erfasste mich ein Erschaudern, wenn ich an die Schatten in meinem Traum heute Nacht dachte.

Schon seit geraumer Zeit taten sie mir nicht mehr weh. Die geladene Energie, wenn sie mir näher kamen, erkannte ich nur an dem Surren und Zirpen der Luft. Wenn sie mich jetzt berührten, waren sie sanft und warm. Taten mir gut. Doch der bodenlose Raum, in dem ich in meinen Träumen normalerweise war, war plötzlich nicht mehr so bodenlos. Nicht mehr so leer und verlassen. In meinem letzten Traum war dort an seiner Stelle eine Hügellandschaft mit kaltem Gras unter meinen Füßen. Der Himmel war dunkel gewesen und Sterne hatten darin geleuchtet. Die Schatten sind dort gewesen - doch sie hatten sich mir nicht genähert. Stattdessen waren sie sie zurückgewichen als ich auf sie zugegangen war. Wie als hätten sie Angst vor mir gehabt. Aber wieso kommt ihr nicht zu mir, hatte mein Traum-Ich gerufen. Ich war so schnell und so hektisch gerannt. Meine nackten Füße in dem trockenen Gras wurden von Stein und Ästen aufgerissen, sodass ich irgendwann getaumelt und zu Boden gefallen war. Und plötzlich war da diese Stimme - Seine Stimme. Er hatte mich noch Nächte vorher angeschrien, mir gesagt, ich solle verschwinden. Doch in dieser Nacht war seine Stimme so ganz und gar anders gewesen. Er hatte noch immer gewollt, dass ich verschwand, doch seine Stimme war in gequälten Lauten zu mir vorgedrungen. Es hatte so geklungen, wie als würde er nichts lieber wollen, als mich bei sich zu haben. Doch ich hatte mich nicht bewegen können. Als ich aus dem Schlaf erwacht war - Mit Schweißperlen im Gesicht und einem mit Schweiß durchtränkten Nachthemd, schmerzten meine Füße tatsächlich. Natürlich waren da keine Verletzungen gewesen, doch es hatte sich alles so real, so echt angefühlt.

Als ich erneut erschauderte, zog ich meine Strickjacke fester um meinen Körper. Der Wind war stärker auf dem Balkon zu spüren. Eine unglaubliche Enge machte sich in meiner Brust breit. Du solltest gehen, hatte die Stimme gesagt. Auch wenn ich bleiben wollte, auch als ich gesagt hatte, ich würde nicht gehen, hatte er darauf bestanden. Du musst gehen.

Aufgewühlt fuhr ich mir durch das lockige Haar, ehe ich wieder in mein Zimmer trat und unschlüssig vor meiner Balkontür stehen blieb. Ich würde nicht wieder einschlafen können. Ich war trotz meiner Müdigkeit hellwach und mein Herz klopfte zu fest und laut. Es war ein so hektisches Klopfen, wie als wäre ich kilometerlange Strecken gelaufen. Als wäre ich tagelang nicht zur Ruhe gekommen. Und deswegen ging ich an meinem Bett vorbei, schnurstracks auf meinen Kleiderschrank zu. Meine Strickjacke und das Nachthemd streife ich mir ab und ließ sie zu Boden gleiten.

Da es ohnehin mitten in der Nacht war, würde kaum einer auf den Straßen sein. Kaum mehr als ein paar Wachen. Die perfekte Gelegenheit die schlafende Sidra zu besuchen und mich von den sanften Geräuschen ihrer Flussströmung beruhigen zu lassen. Ich griff nach der illyrianischen Lederkluft, die mir Nova einst geschenkt hatte. Es war ein so angenehm weiches Material, dass es sowohl Schutz gegen Wind und Wetter gab, als auch unbeschwert an meiner Haut lag. Innerhalb weniger Sekunden stand ich voll angezogen vor dem Spiegel und flocht mir meine Haare aus dem Gesicht.

Der Ruf des SchattensängersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt