Die Brüder Grimm

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Es war Sommer und doch hatte ich nichts Besseres zu tun, als mich auf dem Dachboden der alten Bibliothek einzuschließen und durch irgendwelche verstaubten Bücher zu stöbern. Meine Mutter war die Bibliothekarin, weshalb ich schon als kleines Kind meine Tage in diesem Gebäude verbracht hatte. Ich kannte jedes Buch - von den niedlichen Kindergeschichten bis hin zu den schrecklichsten Psychothrillern. Nichts hatte mir entkommen können.

Doch an diesem Tag war ich auf den Dachboden geklettert und durchsuchte ein altes Regal. Gerade zog ich einen der dicken Geschichtsbände hinaus. Eine regelrechte Staubwolke legte sich über mich, aber ich klopfte die Deckseite bloß sauber und öffnete das Buch. Vor mir lagen hunderte alte Buchstaben auf der großen Doppelseite verstreut, gespickt mit unzähligen kleinen Zeichnungen. Mit zusammengekniffenen Augen musterte ich das Papier genauer. Ein Bild war grusliger als das andere.

Neugierig klappte ich es wieder zu, um die Schrift auf der Vorderseite in Betracht zu nehmen. „Kindermärchen der Gebrüder Grimm", stand in schnörkeligen Buchstaben über einem Bild, welches eine Prinzessin auf ihrer Flucht darstellte.

Das war mal wieder typisch. Erst wurden solche Bände als Kindergeschichten verkauft und im nächsten Augenblick las man, wie Leute in Nägelfässer gesteckt wurden.

„Was für Quatsch...", murmelte ich und öffnete das Buch wieder. Wie die Zeichnungen waren auch die Titel verstörend. Welche Eltern lasen ihren Kindern solche Horrorgeschichten zum Einschlafen vor? Es würde mir wahrscheinlich immer ein Rätsel bleiben, welcher Sinn dahintersteckte. „Ist es wirklich zu schwer, sich Geschichten auszudenken, die einem nicht die Kindheit zerstören?", frage ich mich selbst, während ich die Zeichnung einer warzigen Kröte betrachte.

„Kindheit zerstören? Damit wurde verhindert, dass Kinder nicht so verzogen werden wie du!"

Ich drehte mich nicht um. Wie erstarrt hockte ich einfach auf dem Holzboden und wagte es nicht, mich in irgendeiner Weise zu bewegen. Das musste ich mir vorgestellt haben!

„Sie denkt wirklich, diese Geschichten hätte man einfach so schreiben können", erklang eine weitere Stimme - ebenso tief und männlich.
Mit einem Schlag waren meine Zweifel weg. Das hier war echt!
„Jetzt ist sie plötzlich still", erwiderte die andere genervt.
„Es ist immer dasselbe mit der Jugend von heute!"
„Schrecklich! Früher hätten wir ihnen einfach eine Kröte ins Gesicht gesetzt und ihnen gesagt, dass die nie wieder weggeht, wenn sie so weiter machen!"
„Damals war alles besser!"

Regungslos lauschte ich den Stimmen, wie sie weiter stritten und zankten, während ich mich langsam zu ihnen umdrehte.
Zwei Männer schwebten hinter mir in der Luft. Ich hielt in meiner Bewegung inne. Sie schwebten und keinen von ihnen schien diese Tatsache auch nur ein klein wenig zu irritieren.

Als ihre Blicke dem meinen begegneten, verstummten beide plötzlich.
Einer von ihnen mit einer spitzen dünnen Nase sah zu dem anderen: „Man könnte meinen, sie sieht uns an, Wilhelm!"
„Könnte man", stimmte der andere zu, während er den Kopf ein wenig schieflegte und mich genauer inspizierte.
Der andere, dessen Namen ich nicht kannte, tat es ihm gleich.

Es war dieser Moment, in dem meine letzte Sicherung riss. Mit einem markerschütternden Schrei kroch ich zurück - weg von den beiden geisterhaften Gestalten, die auf eine mir unerklärliche Weise auf dem Dachboden erschienen waren.

Wilhelm hob seine Brauen und der andere riss die Augen auf: „Was ein Stimmvolum, Jakob!"
„Durchaus überraschend", meinte der andere, wobei er zustimmend nickte.

„Was macht ihr auf meinem Dachboden?", wisperte ich. Meine Frage klang bescheuert, aber da die ganze Situation so wirkte, nahm ich mir keinen weiteren Augenblick, um darüber nachzudenken.

„Die Frage ist eher, wieso du es dir zurechnest, unsere Märchen als schlecht zu bezeichnen", entgegnete der mit der dünnen Nase namens Jakob.

„Wahrscheinlich denkt sie, sie kann es besser."
„Sie war noch nie in so einer Lage."
„Sollte sie vielleicht mal", meint er eine zum anderen, wobei ein Funkeln in seine Augen tritt, als wäre ihm eine Idee gekommen.

Meine Kehle schnürte sich immer mehr zu, umso weiter die Beiden diskutierten.

Jakob schüttelte verurteilend den Kopf, wobei seine kurzen leicht gelockten Haare wippten. Beide schienen so in ihre Aufregung vertieft, dass sie mich beinahe vergessen hatten.

„Ihr seid die Brüder Grimm!", stieß ich hervor.
Sofort lagen ihre Blicke wieder auf mich.
„Das sind wir und du Mädchen, hast offensichtlich keinen Respekt."
„Wir sollten es machen wir früher", meinte Wilhelm.
„Wir stecken sie in ein Märchen?"
„Klingt doch gut und wenn sie unsere Charaktere sterben lässt, lassen wir sie sterben?"
„Wundervoll grausamem", Wilhelm schien regelrecht begeistert, „wie wäre es mit Allerleirauh?"
„Oder der Gänsemagd?"

Ich konnte deutlich spüren, wie mein Herz ein ganzes Stück tiefer sackte. Das konnte nicht deren Ernst sein! Ich musste hier weg! So schnell ich konnte, rappelte ich mich auf und stürmte auf die Dachbodenklappe zu.

„Sieh flieht!", rief Jakob beinahe panisch.
„Wir haben keine Zeit", stimmte Wilhelm zu, „Zufallsprinzip?"
„Zufallsprinzip!", genau in dem Augenblick, als er seinem Bruder antwortete, riss ich die Klappe auf und stürzte hinab in Unbekannte - geradewegs auf eine panisch dreinblickende Frau zu.

☕︎

Hii, ich hoffe, euch hat der Einstieg gefallen!

Am Sonntag folgt das erste Märchen! ❤️
(ich finde Sonntage sind einfach die perfekten Märchentage...😂)

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