Kapitel 13

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AZRIEL

Noch bevor Melany ein weiteres Wort sagen konnte, breitete ich meine Flügel aus und hob mit kräftigen Schwingen in die Luft. Trotz der Geschwindigkeit, trotz der Höhe und trotz der Distanz schaute ich sie an, bis sie nichts weiter war als ein schwarzer Punkt auf der Sidra. Und sie bewegte sich nicht von der Stelle. Sie blieb ebenfalls, mit dem Blick auf mich gerichtet. Sie blieb.

Ich wusste nicht wohin ich flog, oder wie lange ich flog. Ich wusste nur, dass die Fae, die ich auf der Brücke zurückgelassen hatte die ganze Zeit, von unserem zufälligen Aufeinandertreffen, bis ich auf dem Balkon zu meinem Zimmer stand, nicht meine Gedanken verließ. Egal wie stetig ich ein- und ausatmete; egal wie stechend die kühle Luft auf meine Flügel traf; egal wie sehr ich auch meine Gedanken abzuschalten versuchte - Melany blieb in meinem Kopf.

Sie hatte meine Schatten berührt. Nein, eigentlich hatten meine Schatten sie berührt. Sie wollten Melany berühren. Doch ich konnte dem nichts entgegenbringen. Als ich sie eingehüllt in meinen eigenen Schatten sah, wollte ich sie auch berühren. Entgegen aller Vernunft, entgegen aller Logik wollte ich spüren, was meine Schatten spürten. Als sich unsere Fingerspitzen berührten und sie kurz darauf auch noch ihre Finger bewegte; meine Hand mit ihrer umfasste, regte sich etwas. Es war, wie als würde ich die ängstlichen Schwingungen spüren, die von ihr ausgingen. Und trotz allem hatten ihre Finger so weich, so sanft über meine Hand gestrichen. Sie hatten meine Hand umfasst, all das, obwohl ich ihre Angst spürte. Selbst die Schatten waren in dem Moment vergessen.

Auf meinem Balkon schaute ich zur Sidra, dort, wo Melany und ich vorhin noch gestanden hatten. Wo sie meine vernarbten Finger umschlossen hatte, trotz ihrer Angst. Wo meine Schatten sie umspielt hatten und über die Berührung unserer Finger wieder zu mir zurückgekehrt waren. Mein Blick glitt zu meinen Händen. Es war, wie als würde ich ihre Berührung noch spüren können. Obwohl ich so schnell geflogen war, obwohl Wind und Kälte meine Haare zerzaust hatten, war die warme Berührung an meinen Fingern noch da. Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen, während ich noch immer meine Hände anschaute. Ich spreizte meine Finger und ballte sie wieder zu Fäusten ehe ich sie unter die Strahlen des untergehenden Mondes hielt und drehte. Wie als würde sich dadurch aus Zauberhand wieder Melany vor mir auftun, die Finger um die meine legen und mich anlächeln.

Doch mein Lächeln erstarb. Es war wie weggefegt, als ich daran dachte, was danach passiert war. Diese unglaubliche Flutwelle an Schuldgefühlen machte sich wieder in mir breit. Ich hatte doch gesehen, wie sie im Garten unter Nestas Berührung zusammengezuckt war. Ich hatte doch gehört, was ihr dieser verdammte Lord vom Hof der Alpträume angetan hatte. Es hat nichts mit Euch zu tun, hatte sie gesagt. Aber es hatte doch etwas mit mir zu tun. Ich hatte sie berührt, sie berühren wollen, obwohl ich das alles wusste. Sie hatte sich der Berührung genährt und auch meine Hand umfasst, aber es hätte auch anders verlaufen können. Wie konnte ich sie bloß so berühren? Wie konnte ich mich nur so verlieren? In mir stieg eine solche Wut auf, eine die sich gegen mich selbst richtete, dass ich einfach nicht still stehen konnte. Wie konnte ich sie nur so bedrängen?

Mit festen Schritten ging ich durch meine Balkontür in mein Zimmer und stieß sie mit einer solchen Wucht zu, dass sie klappernd und krachend ins Schloss fiel. Allein die Wut konnte die Schuldgefühle in mir etwas in den Hintergrund drängen. Und diese Wut weitete sich wie ein Waldbrand aus. Virion. Virion war Schuld an dieser Sache. Ich wusste nicht, in welcher Beziehung sie zu diesem Lord gestanden hatte oder noch immer stand, aber er hatte sie verletzt. Meine Schatten verdunkelten den Raum so sehr, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Alles in mir richtete sich gegen diesen Mistkerl.

Der Ruf des SchattensängersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt