Kapitel 14

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MELANY

Ich winkte Edrin von unserem Vorgarten aus zu, als er in die Lüfte hob und hinter den Bergen verschwand. Nova legte eine Hand an meinen Arm und bedeutete mir, ihr ins Haus zu folgen. Der Tag würde anstrengend werden, auch ohne die Arbeit im Archiv. Edrin war nämlich zu den Illyrianischen Heerlagern aufgebrochen, wohin ihm Nova nachher folgen würde. Nicht fliegend natürlich, dazu waren ihre Flügelstümpfe nicht mehr in der Lage. Edrin war schon vorgegangen, Nova würde dorthin den Wind teilen. Sie war nicht dazu in der Lage, aber eine Assistenzfae, die Nova für solche Angelegenheiten zur Verfügung gestellt wurde.

Ich schloss die Eingangstür hinter mir und trat dann ins Wohnzimmer, wo Nova bereits Platz genommen hatte. Sorge spiegelte sich in ihrem Gesicht wieder. Und obwohl sie mich in das Haus hineingebeten hatte, galt ihr Blick der Luft. Ihre Stirn war in Falten gelegt und sie schien in Gedanken zu sein, selbst dann, als ich mich ihr gegenüber auf den Sessel fallen ließ.

»Nova«, sagte ich sachte und versuchte ihren Blick auf mich zu lenken, indem ich mich im Sessel vornüberbeugte.

»Ja?« Ihr Blick schnellte zwar zu mir, doch ich wusste, dass sie in Gedanken noch immer woanders war. Ich lächelte nur leicht und ließ sie kurz nachdenken. Ich hatte ihr nichts zu sagen, sie wollte vorhin reden. Wie als wäre diese Pause genau das Richtige gewesen, schüttelte sie langsam dem Kopf und sah mich nun direkt an. Ihr Blick war nun auch klarer. »Lany, genau«, setzte sie an, »Ich wollte nur noch einmal fragen, ob du dir ganz sicher bist, dass du während unserer Abwesenheit allein im Haus bleiben kannst.«

»Ich sagte bereits, dass es kein Problem sein wird«, wiederholte ich meine Worte von gestern Abend - und heute morgen. Und von den letzten drei Tagen ebenso. »Das ist schließlich nicht das erste Mal, dass ihr mich hier lasst während ihr zu den Lagern reist.«

»Ja, aber es ist das erste Mal nachdem...« Nova ließ den Satz unbeendet und legte nur den Kopf schief. Wie als wäre diese Geste besser als die unausgesprochenen Worte. Ich schüttelte nur den Kopf und machte mit der Hand eine wegwerfende Bewegung.

»Ich habe auch daran gedacht«, versicherte ich ihr lächelnd. »Virion hat seine Strafe bekommen und wird hier nie wieder auftauchen. Und schon gar nicht außerhalb der Besuchszeit.« Was eine schöne Umschreibung für das war, was eigentlich einen Zeitplan für die Höhlenstadt darstellte, nach der sie in Velaris ein- und ausgehen durften.

»Lady Lorber hat gesagt, falls du es dir doch anders überlegen solltest, kannst du jederzeit zu ihr.« Das hatte mir Nova auch schon gesagt. Ich nickte bloß und lächelte sie so warm wie nur irgend möglich an. Ich wusste, wie viele Sorgen sich meine Cousine machte. Und ich wäre die Letzte die behaupten würde, dass diese Sorgen unberechtigt waren. Dennoch war ich mir ganz sicher, dass ich die nächste Woche nicht im Haus von Lady Lorber verbringen würde. Eine alte High Fae, die schon seit unserem Umzug nach Velaris vor 72 Jahren versuchte, mich mit einem ihrer Enkel zu verkuppeln. Sie waren allesamt nette Fae, aber ich war nicht bereit, mich mit einem von ihnen zu arrangieren. Virion war Erklärung genug. Seufzend ließ ich mich gegen das Sofa sinken als Nova das Zimmer verließ und nach oben ging. Vermutlich um die letzten Vorbereitungen zu treffen.

Virion mochte der beste Grund dagegen sein, aber ich kam nicht umhin, an jemand anderes zu denken. An jemanden, der sich seit gestern Abend in meine Gedanken eingenistet hatte. Etwas, was ich nur ungern zugab, weil ich seit meiner Zeit in der Höhle beschlossen hatte, jeglichem Mann abzusagen. Doch dieser jemand war zu einem Grund geworden, vielleicht doch nicht jeden Mann als Gefahr anzusehen. So dunkel alles um ihn herum auch sein mochte - was nicht nur an den dicken Schattenschwaden lag - schien er doch nichts von dieser Dunkelheit in sich zu tragen. Ich schloss die Augen und versuchte meinen Verstand herbeizurufen. Zumindest den Teil davon, der sich darum bemühte, jeglichen Gefahr von mir und meinem Körper fernzuhalten.

Der Ruf des SchattensängersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt