Kapitel 15

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MELANY

Wieso ließ mich keiner gehen? Wieso konnte ich nichts sehen? Was war das hier für ein kalter Raum? Meine Kleider waren nass, meine Füße waren nass, meine Gliedmaßen taten mir weh. Alles tat weh - selbst das grelle Licht durch die Öffnung der Tür. Meine Augen konnten sich wegen dieser immerwährenden Dunkelheit nicht an das bisschen Leben hinter der Eisentür gewöhnen. Wenn da Licht war, dann müsste dort auch jemand sein der mir helfen konnte.

»Bitte!«, rief ich, doch kein Ton kam heraus. Ich schrie in meinen Gedanken, während meine Augen noch immer versuchten, sich aus der Dunkelheit zu befreien.

»Hört mich denn keiner?« Schon wieder bewegten sich meine Lippen, das spürte ich. Aber meine Ohren hörten keinen Laut, stattdessen tat mir mein Kopf mit jedem Schrei noch ein wenig mehr weh. Wenn ich weiterhin in meinen Gedanken schrie, würde ich hier sterben. Ich würde diesen kalten, nassen Boden nicht verlassen. Ich würde hier tot umfallen und niemand würde mich finden.

Das Licht - da musste ich hin! Ich musste jemanden finden! Langsam bewegte ich meine Gliedmaßen, auch wenn jeder Muskel protestierte. Es schmerzte einfach so sehr. Doch irgendwie schaffte ich es, mich zu erheben. Auf wackelnden Beinen hielt ich mich an demselben nassen und kalten Mauergestein fest. Das Gleichgewicht zu halten war schwer, wenn alles in Dunkelheit getaucht war. Bis auf das Licht. Doch keiner war hinter dem Licht zu sehen. Niemand war zu hören. Es war so still, dass es schon wieder in meinen Ohren schmerzte. Mein Kopf schmerzte, meine Ohren schmerzten. Und dieser Boden war so unglaublich kalt. Wieso hatte ich keine Schuhe an?

»Bitte, helft mir...«, flüsterte ich diesmal. Vielleicht würde jetzt ein Laut kommen - doch vergebens. Ich würde laufen müssen, mir meinen Weg hier selber herausbahnen müssen. Das war nicht eines meiner Träume, wo die Schatten kommen und mich trösten würden. Sie würden diesmal nicht kommen - niemand würde kommen. Ich war allein. Ich musste gehen! Mein Fuß machte einen langsamen Schritt in Richtung Licht. Trotz des Schmerzes das meinen Fuß, mein Bein und schließlich meinen ganzen Körper durchfuhr hielt ich mich ran. Ich musste noch einen Schritt machen.

Ein Schrei entwich meiner Kehle, oder meinen Gedanken. Es tat so weh und die Wand wurde immer kälter. Die Wand und der Boden. Es war, wie als würde ich auf Eiszapfen laufen. Wie als würde ich Feuer und Eis zugleich berühren, als würden sie meinen Körper zugleich verbrennen und einfrieren. Doch das Licht. Das Licht kam immer näher, oder ich kam dem Licht näher.

Hilfe, Hilfe, Hilfe. Doch keiner außer mir selbst hörte mich. Niemand würde zu Hilfe kommen, außer wenn ich aus dieser Dunkelheit heraustrat und das Licht erreichte. Und dieses Licht war mir nun mit jedem Schritt ein wenig näher. Wenn ich nur einen Arm ausstrecken würde...

Die linke Hand noch immer an dem nassen Mauergestein, machte ich noch einen weiteren Schritt. Und noch während mein Fuß in der Luft war, streckte ich meinen rechten Arm aus. Ich klammerte mich an die Hoffnung, dass in dem Licht jemand auf mich warten würde. Mir jemand helfen würde - und berührte das Licht.

Das Licht umfloss meinen Arm mit einer solchen Wärme, einer solchen Sanftheit. Wie damals Azriels Schatten. Sie bahnten sich weiter vor, hüllten Zentimeter um Zentimeter meinen Unterarm ein. Flossen höher zu meinem Oberarm. Und genau als sie meinen in Dunkelheit getauchten Nacken berührten, verbrannte etwas. Ich schrie so laut ich konnte, versuchte meinen Arm wegzuziehen. Doch ich war wie gefesselt. Mein Körper lag in den Schatten der Dunkelheit, und überall dort, wo mich das Licht berührte, fing es an zu brennen und stechen. Ich verbrannte - Es gab kein Feuer, nur das Licht und die Dunkelheit, die sich bekämpften.

Der Ruf des SchattensängersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt