Kapitel 18

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AZRIEL

Wenn man so lange auf etwas wartet und es dann plötzlich vor einem steht; wenn man nur eine Hand danach ausstrecken muss, um es endlich zu fassen zu kriegen; wenn jegliches Warten zu diesem einen Moment führt, weiß man im ersten Moment nicht, wie man reagieren soll. Selbst dieser eine Schritt wird schwer, weil man plötzlich verlernt hat, wie man läuft. Das Erfassen dieses Wunsches wird unmöglich, wenn man nicht zwischen Realität und Traum unterscheiden kann. Doch da stand sie nun. Die Verkörperung meines Wunsches.

Ich hatte schon geahnt, dass sie es ist, als wir auf der Brücke standen. Als die Sidra unter uns dahinfloss, wie als wäre nicht mein 500-jähriger Wunsch in Erfüllung gegangen. Oder zumindest glaubte ich das. Doch als ich die letzten drei Tage auf der Insel zwischen dem Nacht- und Tageshof war; als ich dem Feind gegenüberstand und nichts mehr ausrichten konnte, wurde es mir klar. Die Fae mit den glühenden Fingern, die meine Schatten auf sich ziehen konnte, war meine Seelengefährtin.

Und jetzt stand sie da zwischen Feyre und Nesta, hatte diesen unglaublich besorgten Blick aufgesetzt, und lächelte mich an. Alles an ihrem Körper zitterte, sodass selbst das Kleid, das sie trug, bebte. Doch sie lächelte mich an. Es war, wie als wäre die ganze Welt nur auf diesen einen Moment ausgewesen, als sie zu meiner Gefährtin bestimmt wurde. Meine Gefährtin, die seit Jahrzehnten in derselben Stadt wohnte wie ich. Der ich erst durch meinen Bruder begegnet war. Sie lächelte und ich lächelte zurück - solange, bis sich Rhysand räuspernd an mich wandte.

»Du solltest hier bleiben, bis du wieder bei Kräften bist«, sagte er. Ich wandte meinen Blick zu ihm, auch wenn ich viel lieber in Melanys Augen geschaut hätte. Rhys hatte ein so ernstes Gesicht aufgesetzt, dass ich es kaum wagte zu widersprechen. Ich wusste, dass es ihm in erster Linie nicht um meine Ruhe ging - schließlich hatte Melany durch ihre Magie alles geheilt, was zu heilen war. Es war seine Art, mir zu sagen, dass er jeden Moment Antworten von mir wollen würde. Die ich ihm geben musste. Denn als Rhys vorhin ein Verhör gegen Melany starten wollte, hatte ich ihn nur davon abbringen können, indem ich ihm Zugang zu meinen Gedanken gewährt hatte. Alles, was in den letzten drei Tagen passiert war, hatte ich ihm präsentiert. Unter anderem, wie ich rausgefunden hatte, dass Melany meine Seelengefährtin ist. Ich schluckte beim Gedanken an die Erinnerungen. Sie hatten es geschafft, eine langersehnte Antwort auf die Frage nach meiner Gefährtin auf eine so unglaublich schmerzhafte Weise zu enthüllen. Ich unterdrückte ein Erschaudern, das meinen Körper erfasste.

»Lasst uns wieder runtergehen«, sagte Feyre nun. Meine Augen glitten ruckartig zu Melany, die noch immer ihren Blick auf mich gerichtet hatte. Ich wusste nicht, ob sie unsere Verbindung erahnte. Oder ob sie bereits Bescheid wusste. Ich spürte Gefühlsregungen durch unser Band: Weigerung, Sänfte und Zuneigung. Sie wollte hier bleiben, das war sowohl durch unser Band zu spüren, als auch in ihrem Gesicht zu sehen. Niemand setzte sich in Bewegung, nicht einmal Nesta.

»Ja«, hörte ich Mors Stimme. »Lasst uns Az etwas Ruhe gönnen.« Sie ging zögernd auf die beiden Schwestern und Melany zu, ehe sie sich auch langsam in Bewegung setzten. Melany war die letzte, die den Raum verließ. Sie griff nach der Türklinke und sah noch ein letztes Mal zu mir. Unsere Blicke trafen sich und ich kam nicht umhin, ein Gefühl durch unser Band an sie zu schicken. Ich wusste nicht, ob sie verstand, woher dieses Gefühl kommen würde. Oder ob sie es überhaupt spüren würde. Doch als sie plötzlich kurz blinzelte und mit einer solchen Wärme lächelte wusste ich, dass sie es gespürt hatte. Etwas gespürt hatte.

Es vergingen noch einige Momente, in denen ich bloß auf die geschlossene Tür schaute, durch die meine Gefährtin gegangen war. Meine Gefährtin. Es war so ungewohnt und doch so wunderschön. Ich konnte es noch immer nicht genau fassen.

»Was war das denn bitte?« Cassians laute Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Ich blinzelte einige Male und sah meinen Bruder an, der mich mit hochgezogenen Augenbrauen und offenem Mund anstarrte. Ich legte die Stirn in Falten, konnte mir aber ein schiefes Grinsen nicht verkneifen.

Der Ruf des SchattensängersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt