Julia konnte beobachten, wie sehr Emily sich anstrengte. Wie sehr sie versuchte, die Menschen auf dem Bild zu erkennen.
Doch sie tat es nicht. Es war in ihrem Gesicht abzulesen, dass sie niemanden auf diesem Bild kannte – außer ihrer Puppe Lilly.
Julia hatte so große Hoffnungen gehabt. Als sie Emily das aktuelle Passfoto ihres Vaters gezeigt und diese ihn nicht erkannt hatte, war sie zunächst nur erleichtert gewesen, dass die Kleine allem Anschein nach nicht von ihrem eigenen Vater entführt und misshandelt worden war. Daraufhin hatte sie das alte Familienfoto gewählt, auf dem die Eltern so aussahen, wie Emily sie das letzte Mal gesehen hatte. Das letzte Familienfoto, bevor das kleine Mädchen damals mit ihren drei Jahren verschwunden war.
Doch nun schüttelte Emily den Kopf.
Sie kannte ihre Eltern nicht mehr.
Obwohl das keine Überraschung war – wie sollte es denn nach elf Jahren Gefangenschaft auch anders sein? –, traf es Julia mitten ins Herz. Es tat weh. Die Vorstellung schmerzte so sehr.
„Du kennst also niemanden?", fragte sie noch einmal, obwohl sie die Antwort darauf bereits kannte.
Wieder schüttelte Emily den Kopf.
Julia seufzte enttäuscht, bis sie bemerkte, wie Emilys Augen sich ängstlich weiteten. Gott, sie vergaß manchmal, wie genau die Kleine jede kleinste Regung ihres Gegenübers beobachtete und analysierte und beim kleinsten Anzeichen dafür, dass jemand mit etwas unzufrieden sein könnte, was sie getan hatte, geradezu in Panik verfiel.
„Das ist okay!", versuchte sie Emily daher schnell zu beruhigen, in der Hoffnung, dass die wenigen Worte dazu ausreichten. Denn im Moment war sie tatsächlich ein wenig sprachlos. Sie wusste nicht genau, wie sie von hier aus weitermachen sollte.
Jens Wagner war nicht der Entführer gewesen. Er hatte Emily nur – aus welchen Gründen auch immer – in seinem Kofferraum transportiert. Und auch der wahre Vater war unschuldig.
Wer also war der Mann, den Emily Vater nannte?
„Soll ich dir verraten, wer das auf dem Bild ist?", entschied Julia weiterzusprechen, um Emily, die sie verunsichert anstarrte, nicht der unangenehmen Stille auszusetzen, in der sie offensichtlich ununterbrochen grübelte, ob sie alles richtig gemacht hatte oder jeden Moment für etwas bestraft werden würde, das sie ihrer Meinung nach falsch gemacht hatte. Es war ein Trauerspiel und Julia würde so gerne etwas daran ändern. Sie wusste nur leider nicht, wie.
Immerhin hatte sie veranlasst, dass der Fernseher abgehängt werden sollte. Wenn Emily Angst hatte, darüber beobachtet zu werden, sollte er unbedingt entfernt werden. Denn nutzen würde sie ihn offensichtlich nicht. Sie schien nicht einmal zu wissen, was es war.
Emily überlegte augenscheinlich, wie sie auf die Frage antworten sollte. Schließlich zuckte sie mit den Schultern. Julia glaubte zu wissen, warum. Das Mädchen schien es nicht zu kennen, eigene Entscheidungen treffen zu dürfen. Eine solche Frage überforderte sie, weil sie nicht wusste, was die richtige Antwort war.
„Ich werde es dir verraten", beschloss Julia daher.
Emilys Augen weiteten sich wieder ein wenig. Ein weiteres Mal schien sie abzuwägen, ob ihre Antwort in irgendeiner Weise ein Fehler gewesen war. Wann würde sie nur endlich begreifen, dass sie keine Konsequenzen zu befürchten hatte?
Allerdings war sie erst seit eineinhalb Tagen hier. Man durfte wohl keine Wunder erwarten.
„Also, du erinnerst dich vielleicht daran, dass ich dich gestern nach deinen Eltern gefragt habe." Julia bemühte sich, keine Frage zu stellen, um Emily nicht der Unsicherheit auszusetzen, wie sie antworten sollte. Sie sollte einfach zuhören können. „Die Frage hat dir schwer zugesetzt, deshalb bin ich nicht weiter darauf eingegangen."
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Lost Girl
Misterio / SuspensoEin Mädchen. Gefunden im Wald. Verletzt und gefesselt. Wer ist sie? Woher kommt sie? Wieso spricht sie kein Wort? Und warum scheint sie vor allem und jedem panische Angst zu haben? ------------------------------------------------- Triggerwarnung:...