Rumpelstilzchen (1)

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Als ich meine Augen öffnete, war das Erste, was ich hörte, das leise Weinen einer Frauenstimme. Irritiert sah ich mich um.

Ich lag in einem Raum voller Stroh und wenn ich sagte, voller Stroh, dann meine ich auch voller Stroh! Es füllte nahezu jede Ecke des Zimmers aus, bis auf einen runden Kreis in der Mitte und genau dort saß sie! Eine umwerfend schöne Frau mit dunkelbraunem Haar und Gewändern, die glänzten, als wären sie geschmolzenes Gold, das an ihren Kurven hinabfloss.

Sie wirkte nicht wirklich aus wie eine Frau, die wegen irgendetwas in ihrem Leben meckern konnte.

„Was flennst du denn so?"
Meine Stimme fließ sie heftig zusammenzucken. Ruckartig fuhr ihr Kopf in die Höhe und ein paar himmelblauer geweiterter Augen traf mich. Ihre Gesichtszüge sahen viel zu schön aus, als dass man ihr glauben würde, dass sie sich gerade die Seele aus dem Leib heulte.

Während sie mich anstarrte, versuchte ich verzweifelt festzustellen, in welches Märchen ich gerutscht war, aber mir fiel es nicht ein. Mein Kopf war schlichtweg wie leergefegt.

„Bist du auch so ein dämonischer Zwerg?", wisperte sie erschrocken und wich vor mir zurück.
Ein wenig stutzig hob ich die Augenbrauen. Dieses Mädel wusste wirklich, wie man einen guten ersten Eindruck machte. Ein dämonischer Zwerg...wie kam sie auf sowas?

„Warum sollte ich einer sein?", wollte ich immer noch verwundert wissen.
„Ich weiß nicht", ihre Stimme zitterte beinahe, „du bist so klein und – und so griesgrämig?"
„Griesgrämig?", wiederholte ich gries-, oh, sie hatte Recht.

Aber ich hatte ja auch meinen Grund dazu. Sollte sie erst einmal auf Jungfrauen aufpassen müssen, die einen Hang zur Bildungslücke in Person hatten.
Wann kam ich überhaupt nach Hause? Die Grimms hatten kein Wort darüber verloren, wie lange ich hier bleiben würde? Wie käme ich überhaupt zurück?

Eilig schüttelte ich mich, um diesen Gedanken erst einmal zu werfen, und besann mich zurück auf meine vorherige Frage: „Wieso weinst du also?"
„Weil der andere dämonischer Zwerg mir mein Kind rauben wird."
„Erstens: Es ist nicht der andere dämonische Zwerg, weil es keinen weiteren gibt und-."

„Du bist also ein Knabe?", sie wirkte sichtlich erleichtert.
Ich zog meine Augenbrauen zusammen: „Nein!"
„Also doch ein Zwerg?"
„Ich bin ein Mädchen!"

Das schien die Fremde noch mehr zu irritieren als der Gedanke, dass ich ein dämonischer Zwerg sei. Lebende Bildungslücke – wie ich bereits dachte.

„Wirklich?", wollte sie wissen.
Ich verdrehte die Augen: „Verzeih mir, wenn ich es jetzt nicht unter Beweis stellen will, aber ich bin ein Mädchen."
„Du trägst Hosen!"

Im Stillen zwang ich mich dazu, still durchzuatmen. Ich begann meine nichts hinterfragende Hildegard bereits zu vermissen – aber auch nur ein ganz bisschen!

„Also", fuhr ich bemüht ruhig fort, „ich bin ein Mädchen – versprochen! Und jetzt würde ich gerne wissen, wieso sich jemand, der aussieht, wie eine Königin, in einer Strohkammer versteckt?"

Hildegards Gegenteil schien einen Moment nachzudenken, ob sie es mir wirklich erzählen sollte, doch dann begann sie zu sprechen: „Du musst wissen, ich war nicht immer eine Königin. Mein Vater, der Müller, hat allen erzählt, dass ich Stroh zu Gold spinnen könnte."

„Und, du kannst es?"
„Sehe ich so aus?"
Sie fragte wirklich viel – an diesen neuen Umstand musste ich mich erst einmal gewöhnen.
„Keine Ahnung", gab ich zu, „ich habe noch nie jemanden gesehen, der Stroh zu Gold spinnen kann."

„Ich wünschte, mir wäre es genauso gegangen, aber der König nahm mich mit und versprach mir, dass er mich heiraten würde, wenn ich Stroh zu Gold spinnen könnte."
Sie konnte es offensichtlich nicht. Wieso war Hildegards Gegenteil dann Königin?
„Aber er sagte auch, dass ich sterben müsste, wenn mein Vater gelogen hätte."

Okay. Neue Frage: Wieso war sie nicht tot?

„So ereignete es sich, dass ein kleiner Mann – der andere dämonische Zwerg – kam und er bot mir an, das Gold für mich zu spinnen. Der Preis sollte mein Halsband sein."

Wieder eine neue Frage: Wofür brauchte jemand, der Gold aus Stroh machen konnte, eine Halskette? Hätte er sich nicht einfach eine eigene kaufen können?
Fragen über Fragen...

„Ich willigte also ein. Bald darauf kam er wieder, wir wiederholten alles und ich gab ihm meinen Ring. Das Ganze lief nach Plan, doch der König heiratete mich immer noch nicht! Als der andere dämonische Zwerg das nächste Mal kam, da besaß ich nichts mehr. Daher sprach er zu mir: ‚Gib mir dein erstgeborenes Kind als Preis.' Sicher stellen wir uns gerade dieselbe Frage."

„Bestimmt", ich nickte nachdenklich, „wofür braucht ein Zwerg ein Menschenkind?"
Das machte doch keinen Sinn!

„Ähm", zögerlich legte sie den Kopf schief, „ich habe mich eher gefragt, wieso ich eingewilligt habe, aber - naja. So ist es nun dazu gekommen, dass der König mich zu seiner Frau genommen hat und ich ein Kind bekam."
In mir stieg unterschwellig Panik auf. Wo war dieses Kind?
„Aber er hat es noch nicht mitgenommen!"
Ich atmete erleichtert aus.

„Wenn ich seinen Namen errate, wird er es mir lassen, doch bisher hatte ich kein Glück und morgen ist der letzte Tag. Denkst du, du kannst mir helfen?"
Wie viel einfacherer wäre es wohl, wenn ich mich einfach an dieses verdammte Märchen erinnern könnte!

„Kommt drauf an", meinte ich daher und kratzte mich in Gedanken am Hinterkopf, „weißt du, wo der Zwerg wohnt?"
„Irgendwo im Walde, nehme ich an."
Das rief ja regelrecht nach einem Spaziergang...

☕︎

Das war der heutige Märchensonntag!
Ob Alma im Wald mehr erfährt? Wir werden es vermutlich übermorgen erfahren...

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