Rumpelstilzchen (2)

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Ich war eine Idiotin. Anders konnte man es einfach nicht sagen. Bereits seit einer halben Stunde stapfte ich durch den schlammigen Wald und sankt bei jedem Schritt beinahe ein. Märchenhaftes Wetter? Davon hatte man hier mit Sicherheit noch nie gehört.

Gerade als ich zum wiederholten Male ein Eichhörnchen verfluchte, das Nüsse auf mich hinabregnen ließ, sah ich eine Gestalt. Vorsichtig ging ich weiter – die Tatsache, dass ich ja unsichtbar war, hatte ich mal wieder vollkommen vergessen. Es war nicht unbedingt ungewohnt, übersehen zu werden, aber dennoch irgendwie speziell.

„Alma?", erklang eine hohe Stimme.
Verwirrt zuckte ich zusammen. Wer zum Teufel konnte mich hier kennen?

Ich fuhr herum – langsam und bedacht – bis ich sie inmitten der Bäume entdeckte. Überrascht hob ich die Augenbrauen: „Hilde?"

Ein Strahlen wie das der Sonne breitete sich auf ihren schönen Lippen aus: „Du bist ja doch nicht verschwunden!"

„Was machst du hier?", wollte ich wissen, ohne auf ihre erfreute Feststellung einzugehen. Konnte es sein, dass die einzelnen Märchen zum Teil im selben Land spielten? Einerseits klang es absurd, andererseits wäre es wahrscheinlich viel absurder gewesen, mehrere Welten voller solcher kranken Menschen zu schaffen.

Hilde wurde ein wenig rot: „Ich bin auf dem Weg, um meinen Verlobten zu besuchen."
Um ein Haar hätte ich ein genervtes Stöhnen von mir gegeben: „Hilde, lernst du nie aus irgendetwas?"

„Dieses Mal hat er keine Asche gestreut!", verteidigte sie sich und schien das als ernsthaftes Argument zu betrachten.

Wieso sagten Eltern, dass Dating online gefährlich war? Waren sie jemals im Märchenwald unterwegs gewesen – vermutlich nicht, weshalb man ihnen eigentlich keinen Vorwurf deswegen machen konnte, aber ich ignorierte diese Tatsache. Hier wurde sowieso alles ignoriert, was einen Hauch an Logik besaß: Biologie, das natürliche schützende Unterbewusstsein und meine Persönlichkeit mit ihren hilfreichen Ratschlägen.

„Wie ist er denn so?", fragte ich weiter. So, wie es momentan aussah, würde ich diesen dämonischen Zwerg ohnehin nicht finden. Wieso dann nicht Hilde vor einem weiteren möglichen Tod bewahren?

„Wenn du willst, zeig ich ihn dir! Sein Haus ist direkt hinter dem Hügel mit der Weide dort!", wage deutete sie an mir vorbei.

„Klar!"
Wieso auch nicht? Ich könnte ruhig mal einen Blick auf den keine Asche streuenden Verlobten werfen.
Immer noch vergnügt ging Hilde vor, während ich ihr deutlich weniger begeistert folgte.

An der Weide hielten wir beide inne und schielten um den Stamm herum. Vor uns stand ein kleines Haus, doch das war es nicht, was meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Im Vorgarten brannte ein Feuer, um welches ein kleines Männlein hüpfte. Es war nicht sonderlich groß, sondern viel mehr ein Zwerg mit dunklem Haar und einem spitzen Kinn. Auch seine spinnenartigen Arme waren ausgesprochen kurz.

„Hübsch ist er nicht", gab Hilde zu, die offenbar meine Gedanken erraten hatte, aber ich erwiderte nichts, denn meine volle Aufmerksamkeit galt dem Gesang des kleinen Fremden.

„Heute back' ich, morgen brau' ich, übermorgen hol ich der Königin ihr Kind", trällerte er in voller Lautstärke, „ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß!"

„Singen kann er auch nicht", brummte meine Begleiterin und ließ sich gegen den Baum sinken. Ich hätte ihr nur allzu gerne zugestimmt, aber meine Gedanken waren schon irgendwo ganz anders.

Er hieß Rumpelstilzchen! Das musste einfach der dämonische Zwerg gewesen sein.
„Oh mein Gott, Hilde du Wilde! Das ist der Zwerg der Königin", murmelte ich wie von Sinnen, „er heißt Rumpelstilzchen! Rumpelstilzchen!"

Hilde sah mich an, als wäre ich bekloppt, aber ich nahm es ihr nicht übel. Einerseits fühlte ich mich gerade auch so und andererseits hatte ich sie bestimmt ebenfalls unzählige Male mit diesem Blick bedacht.

Ich zwang mich dazu, tief durchzuatmen: „Okay, Hilde, du gehst jetzt nach Hause und hörst auf, Männer heiraten zu wollen, die irgendwo im Wald wohnen und schlechte Lieder singen."

„Und was wirst du tun?"
„Ein Königreich retten!"
Mehr sagte ich ihr nicht mehr, sondern stürmte nur davon und zurück zum Schloss!

Als ich eintraf, war es beinahe Abend. Ohne Umschweife rannte ich durch Türen und Wände, um zur Königin zu kommen. Ich fand sie in ihrem Strohzimmer, wo sie wie auch zuvor einsam und allein hockte.

„Ich hab den Namen", keuchte ich. Meine Lunge brannte vom vielen rennen, doch das war mir egal. Bis jetzt übermannte der Triumpf noch jedes andere Gefühl. Ich kam nicht einmal dazu, mich zu fragen, wie sie es schaffte, nach all den Stunden voller Rumgeheule immer noch so schön auszusehen.

Mit ihrem ungläubigen Blick starrte sie mich an.: „Wirklich?"
Außer Atem nickte ich: „Er heißt Rumpelstilzchen!"
Das war alles, was ich noch sagen konnte, denn im nächsten Augenblick rumpelte es neben mir. Ein kleines Männlein erschien inmitten des goldenen Strohs. Wir beide starrten es an. Es war derselbe Zwerg wie zuvor im Wald – und er sah mich an.

Mein Herz setzte einen Schlag lang aus. Wie konnte das sein? Niemand konnte mich sehen! Warum er?

Ohne mich eines weiterenn Blickes zu würdigen, sah er die Königin an. In seinen Augen lag ein ruhiger gewinnsicherer Ausdruck, als er sprach: „Nun, Frau Königin, wie heiße ich?"

„Heißt du Kunz?"
Es stieß ein rasselndes Lachen aus: „Nein!"
„Heißt du Franz?"
„Nein!", lachte er wieder so sehr, dass er sich beinahe den Bauch halten musste.

„Heißt du Rumpelstilzchen?"

Seine dunklen Augen wurden groß – viel zu groß für so ein kleines Geschöpf, als es von der Königin zu mir blickte: „Das hat dir das Teufelskind gesagt, es hat dir meinen Namen gesagt!"

Ich rührte mich nicht, sondern starrte den Zwerg nur an, wie er mit seinem dürren Finger immer wieder auf mich deutete.

„Du sollst in der Hölle schmoren!", kreischte er und wollte auf mich zuspringen, doch als seine Füße auf den Boden trafen, tat sich die Erde unter ihm auf. Mit einem letzten spitzen Schrei stürzte der Dämon hinab.

Die Königin sah mich bestürzt an, als ich zurückstolperte, nur um im nächsten Moment ebenfalls zu verschwinden – alles, was ich noch denken konnte, war: Bitte nicht in die Hölle, Grimms!

☕︎

Mal sehen, was die Grimms sich als nächstes überlegen...
Am Montag geht's weiter!

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