Shyla nahm die Nadel in die Hand und fuhr mit dem Faden auf ihre leicht aufgerissenen Lippen. Ein Stich nach dem anderen, immer weiter, bis das Tischtuch mit Blumen bestickt war. Es folgte das nächste. So ging es den ganzen Nachmittag über bis zur Dämmerung, dann würde die Nachtschicht kommen, denn die Firma Lux müsste ja Tag und Nacht besetzt sein, sonst würde die hochwohlgeborene Ruth einen Verlust machen. Diese besagte Ruth stand an einem Geländer, von wo sie über die Arbeiterinnen in ihrem Herrschaftsgebiet wachte. Seit der großen Wende war diese Firma in den Händen ihrer Familie, deren Abstammung aus dem ehrenhaften Haus der Phoenizianer stammte, die das Feuer als ihre Kraft beherrschten. Nur um ihre Macht auch den in ihren Augen wertlosen Wesen dieses Landes zu zeigen, den Menschen hatte sie einen brennenden Stock in der Hand, mit welchem sie nur zu gerne den Arbeiterinnen, die in dieser Firma angestellt waren auf die Finger schlug. Shyla selbst hatte schon einige Narben aufzuweisen, die durch diesen Stock verursacht worden sind. Die Göttin Phönizia selbst, die Urmutter dieses Hauses schien über sie zu lachen. Dämliche Götter und dämliche Visaner von denen viele meinten, sie seien etwas besseres, selbst nach der großen Wende.
"Hast du schon von dem Mord gehört?" Gaia, eine Arbeitskollegin von ihr, die neben ihr gerade die Tischtücher zusammenlegte, warf ihr einen neugierigen Blick zu. Shyla nickte, jeder hatte davon gehört, es machte bereits seine Runde in Lumis, der Stadt des Lichtes, für die Visaner zumindest. Der Mord war ein furchbarer, zerstückelte Körperteile und viel, viel Blut. Die Zeugin, ein junges Menschenmädchen hatten sich sofort in einer Ecke erbrochen, als sie den Leichnam gesehen hatte, oder was von ihm übriggebliebene war. "Ein Daemaki, was sonst." murmelte Shyla und schnappte sich das nächste Tischtuch. Sie hatte die Blumen so satt, die wunderschönen verschnörkelten Pflanzen, die sie tag ein und aus nähen musste. "Ich habe von Dera gehört, dass Errus die Untersuchung leiten sollte." Shyla runzelte die Stirn, Errus war einer der höher gestellten Lumenis, den Wächtern des Lichtes, die diese Straßen vor den Daemaki oder andere Ausgeburten der Hölle beschützen sollten. Die Boraner hingegen, deren Mehrheit aus Caden bestand, waren im Dienste des Hauses Caden, welches die rohe Gewalt beherrschte und sie sollten die Diebe und Tunichtgute aufspüren und vor das Gesetz des Lichtes führen. "Hast du denn keine Angst? In den letzten Monaten sind mir eindeutig zu viel Daemaki auf den Straßen unterwegs, Gregor hat mir erzählt, er habe einen Beißer gesehen!" Gaias Augen wurden groß und sie fuchtelte mit den Armen, um ihren Worten noch mehr Dramatik zu verleihen, doch Shylas Mund verzog sich nur. Gregor war ein Schwätzer, ganz Hyalis wusste das. Falls er wirklich einen Beißer gesehen hatte, dann würde er jetzt nicht mehr leben, denn diese Abstammung der Daemaki waren eine Ausgeburt von Grausamkeit und Tod, wie sie nur wenige gesehen hatten. Kein Mensch würde sowas überleben, nur die Visaner, mit ihren gottverdammten Kräften, welche sie nur zu gern vorführten und ihnen, den Menschen klarmachten, was sie nicht haben und was ihnen fehlte. Gegen die Daemaki hatten sie wirklich keine Chance, deswegen waren die Lumenis geschaffen worden, eine Garde, entsand von den heiligen Göttern selbst, um diese Stadt zu schützen und auch dieses Reich: Cybelus, ihre Heimat. Wehmütig sah Shyla auf die Uhr, nur noch wenige Minuten, dann würde der Gong ertönen, welcher das Eintreffen der nächsten Schicht versprach, insgesamt gab es drei Schichten, eine in der Früh, eine Nachmittags und die letzte in der Nacht, die unter allen am verhasstesten war, doch was brachte es sich zu wehren, die Arbeitsplätze waren heiß begehrt und Shyla war nicht gerade darauf erpicht, diesen zu verlieren, denn es ging nicht nur um sie, sie hatte sich um ihre Familie zu kümmern. Da war er. Voller Freude sprang Shyla auf, nur um sich einen Schlag mit Ruths geliebten Feuerstock einzufangen. "Nicht zu viel Freude, Nummer 31, dein Platz ist heiß begehrt." Ruths knarrende Stimme drang zu ihr vor und Shyla senkte den Kopf. Dabei biss sie auf ihre Zähne, um nicht voller Schmerz loszuschreien, den der Stock hat einen dunklen Striemen auf ihrer Arbeitsuniform hinterlassen und eine Wunde auf ihrem Arm. Jeder in dieser Firma hatte eine spezielle Uniform mit einer Nummer zugeteilt bekommen, insgesamt gab es hundert Uniformen in dieser Firma, Gaia hatte die Nummer 30, sie war kurz vor ihr eingestellt worden und ihre Bezugsperson gewesen. Das hat sich bis heute nicht geändert. "Ja, Frau Ruth." Kein Titel, denn sie hatte ja keinen, trotzdem führte sie sich auf, als wäre sie die Kanzlerin selbst. Nur eine der unzähligen Geschäftsvorsteher, die in Hylalis ihre Firma errichten hatten. Mit einem letzten warnenden Blick stolzierte sie davon und Shyla atmete erleichtert auf. Es war lächerlich vor so einer kleinen, alten Frau Angst zu haben, doch ihre Arbeit stand auf dem Spiel und die Urbanisierung trieb jeden in die großen Städte dieses Reiches, begierig darauf in eine der Firmen arbeiten zu dürfen. So auch Shylas Familie, doch bei dem Gedanken daran, zog sich ihr Magen zusammen, nein sie würde jetzt nicht daran denken. "Lasst uns gehen." Gaia hielt ihr die Hand entgegen, die Shyla dann auch ergriff. Zusammen gingen sie in Richtung ihrer Umkleide, ein kleiner Raum im Vergleich zu der großen Fläche der Fabrik von Ruth Harmen, der Erbin der Nähereien und Wäschereien Firmenkomplexe, die den Südteil von Hyalis, dem Arbeiterviertel ausmachten. Riesige Körbe voller Wasser und Lauge, sowie Dampfmaschinen waren aufgebaut, alle nur für einen Zweck: Die unzählige Wäsche der adeligen und wohlhabenden Häuser zu reinigen. Rechts daneben war der Nähereienstand, bei welchem Shyla heute zugeteilt war. Die Rangfolge änderte sich alle paar Wochen. Doch nun hatte sie frei, zwar nur für zwei Tage, aber diese würde sie in aller Ruhe auskosten. Dank des Humilia-Gesetzes hatte sie diese. Es wurde erst vor ein paar Monaten beschlossen, dank ihrer aktuellen Kanzlerin, aus dem Haus der Aren, die die Kraft des Windes innehatten. Eine gute Vorsteherin wie Shyla fand, die sich wenigstens ein bisschen für die Menschen einsetzte, zumal der Rat der elf nicht nur von den hellsten Sternen am Himmel besetzt war. "Bis Morgen." Mit einem letzten Gruß verabschiedete sie sich von Gaia, die ihr zulächelte. Shylas Hand erstarrte in dem Abschied und sie musste schlucken, sie hatte ganz vergessen, was sie zuhause erwarten würde. Stöhnend machte sie sich auf den Weg. Ihr Vater hatte gestern Abend wieder über die Stränge geschlagen und sie musste in der Früh den Dreck beseitigen. Sie betete zu allen Göttern, auch wenn diese sich nicht für die Wünsche einer in ihren Augen unnützen Sterblichen kümmerten, dass ihr Vater ihnen nicht noch mehr Schulden eingehandelt hatte. Erst vor ein paar Wochen hatte er die Kette ihrer Mutter hergeben müssen, weil sie sonst ihr Haus verlieren würden. Flehen und Betteln brachte alles nichts, immer wieder hatte Shyla versucht, ihn von diesen Mörderritt abbringen zu wollen, immer wieder hatte sie geweint, gebetet, alles half nichts. Er ging wieder zu Ascian, dem Herr der Spielunken und Diebe dieser Stadt, ein noch relativ junger Mann mit charmanten Grinsen und ein überaus intelligenter Stratege, doch immer noch ein Krimineller. Westlich von Hyalis lag das Saufviertel, wie es Shyla im Geheimen nannte, es waren Hurenhäuser an jeder Ecke und zwielichtige Lokale, in denen man alles verlieren konnte, wirklich alles. Die Boraner hatten hier zwar ihre Männer stationiert, doch es war zwecklos, in Kramas herrschten eigenen Regeln, denn die Oberköpfe der Kriminalität, zu welchen auch Ascian gehörte, bestochen die Boraner, damit sie nach Lust und Laune über dieses Gebiet herrschen konnten. Soweit sie ihre krummen Finger nicht über die Grenze von Kramas hinausstreckten, war alles gut. Ein unbeschriebenes Gesetz, das war es schon immer. Das schlimmste daran war jedoch, dass ihr Vater die Hände immer mitten drin hatte, in jeder Spieltaverne war er schon und hatte sich bis zur Bewusstlosigkeit betrunken. Es war seine Art mit ihrem Tod fertigzuwerden, dem Tod ihrer Mutter, die vor zehn Jahren durch die Hand eines Daemaki gestorben war, einem Dunklen, der im Schatten lebte und sich vor Licht scheute. Eigentlich einer der weniger schlimmen, aber immer noch tödlich. Nein, sie würde jetzt auch nicht mehr an ihre Mutter und an die Zeit in Reka denken, an die Zeit, in welcher sie einen Bauernhof hatten und .... glücklich waren als Familie. Sie, ihre Mutter mit ihren lieblichen braunen Augen, die Shyla von ihr geerbt hatte, ihrem Vater, der sich damals noch nicht jeden Tag in ihr Haus übergeben hatte und Demir, ihrem Bruder. Dieser übrigens sollte auch gerade von seinem Dienst zurückkommen, immerhin hatte er dieselben Arbeitszeiten wie sie. Doch im Gegensatz zu ihr arbeitete er nicht in Ruths Imperium, der Phoenizierin, nein er war in der Stahl-Firma von Daro aus dem Haus Caden eingestellt. Daro hatte im Prinzip die Oberhand über das andere Imperium des Arbeiterviertels, er hatte über zehn verschiedene Fabriken, welche alle Maschinen in jeglicher Form herstellten. Im Zeitalter des Aufschwungs nach der großen Wende hatte es große Fortschritte in Bezug auf die Technik gegeben, es wurde ein Gerät erfunden, welches auf Papier Buchstaben erzeugen konnte, es wurden Maschinen für die Herstellung wichtiger Bauteile geschaffen, es wurden Gebäude aus dem Boden gestampft, die die Welt noch nie gesehen hatte. Das alles war Delroy zu verdanken, dem Wissenschaftler, der diese konstruiert hatte. Ironischerweise war er ein Mensch, was dazu führte, dass man ihn zwar zuerst nicht anerkannte, dann aber seine Leistungen nur zu gerne zu würdigen wusste, denn er zeigte den Visaner, dass es neben den Rebellen auch noch andere Menschen gab, die ihnen nützlich waren, nicht nur Terroristen, wie Halus, der den Aufstand gegen die Visaner angezettelt hatte.
"Shyla!" Diese Stimme kannte sie nur zu gut, ihr beste Hälfte blickte ihr entgegen, ihr Bruder, Demir. Seine hellbraunen Haare standen in alle Richtungen ab und sein Gesicht, es war... Shyla verzog das Gesicht. "Hast du in der Kohle gelegen?" Spöttisch stolzierte sie auf ihn zu und wog dabei ihre kurvenreichen Hüften, die viele Männer an ihr mochten. Demir verdrehte die Augen und blickte den jungen Mann, der ihr auf den Hintern gestarrt hatte, drohend an. "Musst du das machen?" Demir hasste es, wenn sie den Männer zeigte, was sie hatte, doch sie liebte es. "Tu nicht so unschuldig, ich weiß genau, dass du es letzte Nacht mit Kia getrieben hast." Seine Mundwinkel verzogen sich, ja sie hatte Recht, denn ihre Hütte hatte dünne Wände und sie konnte in der Früh den schamhaften Gang von der jungen Jägerin erkennen, die relativ oft in letzter Zeit ihre Hütte besucht hatte. "Demir!" Zwei Männer kamen ihnen entgegen, Kazir und Mathis seine zwei besten Freunde, der erste von den beiden zwinkerte Shyla schelmisch zu, wobei ihm der andere in die Rippen boxte. Demir hasste es, wenn sie mit ihnen flirtete und umgekehrt. "Heute Abend, wir vier zu den goldenen Rädern?" Das war ihr Stammlokal, ihr liebster Ort, dort verbrachteten sie Stunden und spielten und betranken sich mit Alkohol, was das Zeug hält. "Natürlich." Shyla warf ihre hellbraunen Locken voller Schwung zurück und zeigte den Jungs ihre Zähne. "Solltest du nicht arbeiten?" "Ich habe frei, so wie du! Lad doch Kira heute Abend auch ein!" Mit dieser Aufforderung hatte sie ihn, denn die Augen von Mathis und Kazir wurden groß. Shyla wusste, dass sie ihn nun die ganze Zeit mit Fragen löchern würden. Demirs Miene wurde finster und er zeigte ihr beim Weggehen noch den Finger, den ihm Shyla nur liebend gerne zurückzeigte. Sie zogen sich gerne auf, doch im Grunde waren sie wie eine Herz und eine Seele, immer füreinander da. Zusammen versuchten sie mit dem Tod ihrer Mutter fertigzuwerden und sich um ihren Vater zu kümmern und ihn davor zu bewahren, seine eigene Seele zu verspielen. Kein leichtes Unterfangen, im Gegenteil. Shyla stand am Regisplatz, der inmitten von Hylaris war, dies war der öffentliche Platz für das Richteramt und die Behörden. Um diese Uhrzeit stolperten alle Arbeiter müde von ihrer Schicht nach Hause, begierig darauf ein paar Stunden Schlaf zu ergattern, das Leben in Lumis war hart, insbesondere in Hyalis und doch zogen es viele Menschen vor, hier zu leben. Auf dem Land war es einfach nicht so sicher wie hier, doch die Morde in der letzten Zeit zeugten vom Gegenteil. Doch die Lumenis würden die Daemaki jagen und den Ort ihres Ausbruches schließen, sollten sie denn den finden. Die Daemaki krochen aus den dunkelsten Ecken hervor, doch es bedarf an einer speziellen Kraft, diesen Eingang für sie zu schaffen. Dank des Rats der elf wurde diese Eingänge geschlossen und unschädlich gemacht, doch wie es scheint, hatten diese andere Probleme, denn in ein paar Monaten sollte die Kanzlerwahl wieder stattfinden und alle der Ratsmitglieder waren auf Stimmen des Senats aus und dieser wiederum auf den Zuspruch des populus, der Vertretung in der untersten Ebene. Ihr bester Freund würde bald in den populus gewählt werden, somit war dies auch für ihn eine wichtige Zeit. Die Chance war nicht gerade groß hineingewählt zu werden, denn es war nur einem Prozentteil der Menschen gestattet, diesen Aufstieg zu ergattern. Regierungsangelegenheiten waren eine Aufgabe der Visaner, deren Kräfte immer zu einem der Häuser zugeordnet waren. Diese Häuser waren Nachfahren der großen Götter, die dieses Land gegründet hatte und es auf den Ozean dieser Welt gesetzt hatten, so besagten es jedenfalls die Legenden, doch Shyla hatte andere Probleme, da musste sie sich nicht mit solchen trivialen Fragen, woher die Welt kommt und wieso sie so ist, wie sie uns erscheint, beschäftigen. Sie müsste ihren Vater nüchtern machen und sich um ihn kümmern. Dann jedoch würde sie ihr bestes Kleid anziehen, ein rotes mit einem verschnürten Ausschnitt, welches ihre große Oberweite nur betonte und dann würde sie mit ihren Freunden das Tanzbein schwingen. Bei den Gedanken daran vergaß sie sogar den kohlebelasteten Gestank, der sich über Hylaris zog, heraufsteigend aus den Kaminen der unzähligen Fabriken, in denen ununterbrochen Kohle verbrannt wurde, damit die Maschinen angetrieben wurden.
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Praedictio
FantasyCybelus ein Land geschmieden von den sechs Göttern, in welchem eine junge Menschenfrau sich ihrem Schicksal stellen muss. Die Visaner, die Nachfahren der Göttern stellen sich über die Menschen, doch einer scheint es sich angetan zu haben, der jungen...