Kapitel 24

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AZRIEL

Ich reichte Rhysand den Brief. Seine Augen fixierten es erst, dann mich und dann schließlich den Umschlag in meiner Hand, ehe er mit gerunzelter Stirn danach griff. Noch immer mit diesem unschlüssigen Blick im Gesicht brach er das goldene Siegel des Tageshofes und entnahm das Pergament aus dem Kuvert. Ich ließ mir zwar nichts anmerken, aber mein Herz schlug mir bis in den Hals während ich auf Rhysands Reaktion wartete. Der langersehnte Brief von Helion war angekommen - Nur einen Tag bevor die Höhlenstadt hier auftauchen würde.

Rhysands Augen flogen über den Brief, ehe er lange auf das Ende starrte, und dann... nochmal von vorne zu lesen begann. Ungeduldig atmete ich aus während ich mein Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte. Was stand darin, wenn er den Brief ein zweites Mal lesen musste? Was sagte Helion?

»Rhys«, sagte ich leise, als er schon wieder an derselben Stelle haltmachte und bloß ohne zu blinzeln auf das Ende des Briefs starrte. Er gab keine Antwort, doch er hob den Blick. Ich versuchte zu erkennen, was in ihm vorging. Aber da war nichts als Leere und Eiseskälte in seinem Blick zu erkennen.

Mit geschürzten Lippen griff ich nach dem Brief in seiner Hand. Rhysand machte keine Anstalten mich davon abzuhalten. Stattdessen fuhr er sich nun seufzend durchs Haar und ging einige Schritte im Büro umher. Währenddessen las ich den Brief.

Und stockte an genau derselben Stelle wie Rhysand. Ich las den letzten Satz einige Male, ehe ich zu Rhysand aufblickte, in dessen Augen endlich Emotionen eingekehrt waren.

»Du wirst das wohl kaum akzeptieren, oder?«, fragte ich. Mir war egal, ob in meiner Stimme eine Drohung lag oder nicht. Und es war mir auch egal, dass ich gerade so zu meinem High Lord sprach.

Rhysand gab nicht direkt eine Antwort, sondern sah mir nur unverwandt in die Augen. Es war, wie als wären sie dunkler geworden. Die Sekunden fühlten sich wie eine halbe Ewigkeit an, doch noch immer sagte er nichts.

»Rhysand!«, rief ich nun mit ungezügelter Wut aus. Ich machte einen Schritt auf ihn zu und hob den Brief in die Höhe. »Das kann nicht sein Ernst sein!«

»Das ist es aber«, sagte er und verschränkte die Arme vor der Brust. Diese unbeirrte Ruhe ließ meine Wut nur noch weiter steigen.

»Nur weil er es sagt, musst du es nicht ausführen!«

»Nein, das muss ich nicht.«

»Aber du denkst darüber nach, habe ich Recht?«

Schon wieder diese Stille. Ich ballte meine Hände zu Fäusten und zerknitterte so auch den Brief. Rhys sah zu meiner erhobenen Hand mit dem Brief darin und dann wieder zu mir, ehe er sich wegdrehte und geradewegs zu seinem Schreibtisch ging. Mit festen Schritten folgte ich ihm.

»Sie ist Mitglied deines Rates. Melany steht unter deinem Schutz.« Ich bemühte mich um einen ruhigeren Ton, aber die Anspannung war deutlich zu hören.

»Ich weiß das alles, Azriel.«

»Wie kannst du es dann in Erwägung ziehen, sie Helion auszuliefern?«

Rhys drehte sich mit Schwung zu mir um und sah mich aus gefährlich wütenden Augen an. »Du hast den Brief gelesen, Az!« Jede Gelassenheit war verflogen.

»Du bist der High Lord des Nachthofs!«

Rhys legte eine Hand auf den Stuhl hinter sich, wie als würde er sich selbst davon abhalten wollen, mich anzugreifen. Doch auch ich war mittlerweile am Ende meiner Geduld. »Und er ist der des Tageshofs!«, entgegnete er.

»Sie ist meine Seelengefährtin!«, fuhr ich ihn knurrend an und machte noch einen Schritt auf ihn zu.

Rhys verharrte in seiner Position, öffnete den Mund, wie als würde er etwas sagen wollen, schloss es dann aber wieder. Ich hörte, wie andere den Raum betraten. Und ausgehend vom Geruch waren es Nesta und Feyre.

Der Ruf des SchattensängersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt