Morgade

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«Ist es wirklich nötig, dieses ganze Gold mitzunehmen?»

«Halt den Rand und lauf gefälligst etwas schneller!»

«Reg dich ab, Boss...»

«Ich werde mich garantiert nicht abregen!», schimpfte der Anführer der Bande, ein einst durchaus sehr muskulöser Mann, was nun jedoch von einer nicht mehr ganz gesunden Speckschicht versteckt wurde. «Irgendetwas außerhalb unserer Kontrolle geht auf dieser Insel vor sich und ich habe nicht vor, zu bleiben und es herauszufinden!»

Stumm lief die Gruppe – bestehend aus dem Anführer der Blutigen Seedrachen und einem Dutzend Gefolgsleute – schnellen Schrittes weiter, bis sie schließlich bei einer scheinbaren Sackgasse ankamen. Jeder von ihnen trug Schwert und Schild. Einer von ihnen trug eine kleinere Kiste, bis zum Rand gefüllt mit Gold. Zwei weitere teilten sich eine größere mit gleichem Inhalt.

«Holt die Räder raus und öffnet diesen verdammten Gang!», kam der Befehl.

Prompt traten zwei der Männer hervor, die an jeweils gegenüberliegende Seiten des Ganges traten, denn dort waren kaum sichtbar zwei kleine Fassungen eingebracht. Fassungen, an die man speziell gefertigte Dinge anbringen konnte, die an Steuerräder erinnerten. Kaum eingesetzt begannen die beiden bereits unter größter Anstrengung zu drehen.

Tatsächlich hob sich langsam eine Steinplatte, die zum Zugang eines weiteren künstlichen Tunnels, der eine Steigung besaß, führte. Aber davon einmal abgesehen: Wer auch immer für die Konstruktion dieser Tunnel und dieses Mechanismus verantwortlich war, musste ein Genie gewesen sein.

«Sehr gut», murmelte der Anführer und erklärte daraufhin: «Dieser Tunnel führt uns geradewegs zu den Docks. Wer auch immer uns angreift, wird sie bestimmt unter Kontrolle haben, aber das Überraschungsmoment sollte uns einen Vorteil geben, sodass wir uns ein Schiff schnappen und davonsegeln können.»

Akzeptierendes Nicken war alles, was von seinen Begleitern kam, doch dann stieß einer von ihnen einen kurzen Pfiff aus, als er am Ende des Ganges hinter ihnen etwas erblickte.

Oder besser gesagt jemanden erblickte.

Eine Frau ganz in Rot gekleidet sah gerade mit an, wie ihr Zielobjekt zu fliehen versuchte.

Die Entscheidung, was zu tun war, fiel schnell.

Pfeil und Bogen waren schnell in ihren Händen. Für mehr Präzision bediente sie sich der konventionellen Schusstechnik und richtete ihre Augen fest auf das durchaus voluminöse Ziel. Der Pfeil löste sich von der Sehne.

Das Problem war nur, dass seine Begleiter ihn sofort mit Schilden vor dem mindestens lebensgefährlichen Schuss deckten. Sie ließen kaum eine Lücke, die auf diese Entfernung realistisch mit einem Pfeil durchdrungen werden konnte.

Während die Kopfgeldjägerin einige weitere Schritte nach vorn ging und den nächsten Pfeil anlegte, überdachte sie bereits ihr Ziel, bis ihr Blick auf einen der zwei Männer fiel, der gerade den Geheimgang öffnen sollte.

Das nächste Geschoss fand sich unmittelbar in seinem Rücken wieder und durchbohrte geradewegs seine Lunge. Er rang nach Atem, als seine Kraft nachließ und sein Kumpane auf der anderen Seite die Kraft nicht ausgleichen konnte.

Der Ausgang fiel wieder vollständig zu.

Der Anführer der Blutigen Seedrachen schaltete schnell. «Haltet sie auf!», befahl er. «Ihr sechs! Bringt mir ihren Kopf und ihr dürft euch die kleine Truhe untereinander aufteilen!»

Seine Gefolgsleute brauchten kein weiteres Wort, um auf den Eindringling zuzustürmen.

Die Rote Walküre zog ihr Katana, das sie noch nicht vom Blut des vorherigen Kampfes gereinigt hatte und daher noch rötlich verschmiert war.

Während nun also die hochtödliche Jägerin sich einen nach dem anderen vornahm und sich ihrer entledigte, vollkommen ungeachtet aller leichten und schweren Wunden, die sie in diesem Prozess erhielt, wurden die Augen des Anführers größer und größer.

Sie schien keine Grenzen zu kennen, keine Erschöpfung, nicht den Hauch von Müdigkeit oder langsamer werdenden Bewegungen.

Und garantiert keine Spur von Mitgefühl oder Gnade.

Mit bleichem Gesicht riss er eines der Räder aus der Wand und setzte es an eine nicht allzu weit entfernte Stelle ein, wo er wieder geradezu panisch zu drehen begann.

«B-Boss? Was hast du vor?»

«Das wirst du wahrscheinlich gleich sehen», murmelte der Anführer und kreuzte innerlich die Finger.

Und seine Befürchtungen bestätigten sich, als die Kopfgeldjägerin siegreich aus dem Kampf hervorging. Nicht nur sie selbst und ihre blutbespritzte Gestalt, sondern auch ihre für normale Menschen unüberstehbaren Wunden waren absolut zum Fürchten.

Eine tiefe Fleischwunde hatte sich gebildet, als ihr ein Schwert in die Schulter hackte und dabei das Schlüsselbein halbierte. Eine weitere tödliche Wunde befand sich an ihrer Hüfte. Doch die vielleicht markanteste Verletzung war dort, wo ein Schwert in ihrer Brust steckte und sie vollkommen durchbohrte. An sich herabsehend packte sie es fest mit beiden Händen an der scharfen Klinge und zog es aus sich heraus, bevor sie es mit einem herausfordernden Blick klirrend fallen ließ.

Angesichts dieser unglaublichen und schweren Verletzungen fiel es fast gar nicht auf, dass sie dafür viel zu wenig blutete. Als würde sie irgendetwas von innen zusammenhalten. An ihr war etwas vollkommen Unnatürliches und schlichtweg Böses.

Erfüllt von einem Gefühl der Unbesiegbarkeit stapfte sie langsam auf den Anführer der Blutigen Seedrachen und seine verbliebenen sechs Begleiter zu, von denen alle bis auf Ersteren einen Schritt zurück machten, während bei jedem ihrer Schritte einige Bluttropfen von ihrer Kleidung herabregneten.

Trotz ihres Überlegenheitsgefühls behielt sie einen scharfen Blick auf ihr beleibtes Ziel, das immer noch an dem in der Wand festgemachten Steuerrad festhielt und irgendetwas abzuwarten schien.

Und eine gewisse Stimme machte ihr noch einmal klar, dass sie in dem Zustand nicht lange am Leben bleiben könne. Sie musste sich also beeilen.

Also begab sie sich wieder in eine Kampfhaltung und stürmte nach vorn.

Der Anführer machte einen letzten Ruck am Steuerrad.

Und auf einmal stürzte der steinerne Tunnel auf sie herab.

Ein bestimmter Abschnitt der Tunneldecke schien lange vorher als eine Art Falle präpariert worden zu sein, um den Geheimgang abzusichern, indem der Fels bereits aufgebrochen wurde. Somit brauchte es nur noch einen Mechanismus, der die Struktur final destabilisierte.

Einen sehr komplizierten Mechanismus, der mit der Drehung eines Rades verwirklicht wurde.

Ernsthaft, wer auch immer hinter den Mechanismen dieses Tunnelsystems steckte, war ein böses Genie.

Der Staub legte sich langsam und als die Wolke sich aufgelöst hatte, atmete der Anführer erleichtert auf, als er die Kopfgeldjägerin nirgends erblickte. Er entfernte das Rad aus seiner Halterung und gab es wieder an einen seiner Gefolgsleute, damit sie nun endlich durch den geheimen Gang fliehen konnten.

Wäre das Rattern der Mechanismen nicht zu hören gewesen und hätte man wirklich hingehört, hätte man noch etwas unter den Felsmassen hören können. Ein ersticktes Stöhnen, wenn überhaupt, und leise, angestrengte Worte mit einem Hauch Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung.

«Kha'Zix...», hauchte sie, «bitte...»

«Das geht nicht, Kleine», entgegnete er besorgt. «Noch mehr, und du wirst sterben.»

Tatsächlich beschützte er sie bereits so gut es ging. Ihre Haut hatte eine eiserne Festigkeit, ihre Knochen waren nahezu unnachgiebig. Trotz der etlichen Tonnen an Felsmassen und Steinbrocken, die auf sie herabdrückten, lebte sie noch. Aber noch mehr Leerenenergie würde sie schlichtweg nicht vertragen.

«Egal...», keuchte die Rote Walküre, während ihr langsam die Luft abgeschnitten wurde. «Tu's... einfach!»

«Ich kann nicht. Es tut mir leid.»

«Kha'Zix...»

Sie konnte spüren, wie ihm langsam die Leerenenergie ausging. Nach und nach verloren ihre Haut und ihre Knochen ihre künstliche Stärke, während der Fels immer stärker auf sie hinab drückte.

Es war ein aussichtsloser Kampf.

Sie schloss die Augen.

Die Präsenz des Leerengeborenen rückte in den Hintergrund.

Doch seltsamerweise... schob sich eine andere langsam hervor.

Auf einmal hatte sie den Drang, die Augen zu öffnen. Und als sie es tat, rieb sie sich gleich wieder darüber.

«Was zum...», hauchte sie und sah sich um.

Es war wie bei den Trainingseinheiten mit Donner. Es war, als wäre sie wieder in dieser seltsamen Zwischendimension. Doch dieses Mal war sie wirklich... leer. Sie war umgeben von Schwärze. Und es war niemand bei ihr.

Dachte sie jedenfalls.

«Komm mit mir, wenn du leben willst»

Sie drehte sich rasch um. Diese Stimme hatte sie noch nie gehört. Es war... wie die eines Leerengeborenen, nur... menschlicher.

Als sie sich umdrehte, lag nur wenige Schritte von ihr ein Helm auf dem Boden.

Er war zum größten Teil grau bis zu einem sehr hellen Violett, während er an den Seiten und bei einem vertikalen Strich in der Stirngegend fast schwarz war. Zwei glühende Schlitze zogen sich von den Seiten des Helms auf Augenhöhe bis hinunter zum Kinn.

Bei genauerem Hinsehen erinnerte es nicht wirklich an einen Helm, sondern vielmehr an eine zweite Haut für den Kopf, wenn auch aus einem chitinartigen Material, eckig und kantig, aber ansonsten fast glatter als Haut selbst.

Sie blinzelte völlig verständnislos und sah sich weiter um. «Was ist das hier?», rief sie. «Wer bist du?»

«Wer ich bin, ist nicht von Belang.» Bei genauerem Hinhören konnte man ausmachen, dass die Stimme weiblich war, wenn auch leerentypisch verzerrt und unnatürlich. «Die wichtigere Frage ist doch: Wer bist du?»

«Was zum Teufel meinst du?», fragte die Rote Walküre und starrte den einfach nur auf dem Boden liegenden Helm an. «Wo ist Kha'Zix?»

«Ich weiß, du steckt in Schwierigkeiten. In Lebensgefahr. Aber ich kann dir helfen», antwortete die Stimme, ohne auf sie einzugehen.

«Du erwartest, dass ich dir traue?», rief sie, ohne ihre Gesprächspartnerin sehen zu können.

«Nein, aber wenn du leben willst, hast du keine Wahl.»

...

«Wo ist der Haken?»

«Mit dem Haken läufst du bereits seit Monaten herum», kam die schnaubende Antwort. «Setze meinen Helm auf und ich kann dir helfen.»

Anfangs zögerte sie, doch sie wusste genau, dass diese seltsame Stimme ihre einzige Chance war. Sie seufzte und nahm den Helm auf, nur um ihn dann genauer zu betrachten. Er verformte sich in ihren Händen, als wenn er sie kennenlernen wollte, um sich an sie anzupassen. Wenig später entsprach der Helm ihrer eigenen Kopfform.

Ihn aufzusetzen wäre so einfach...

«Du hast mir noch nicht gesagt, wer du bist», ertönte die Stimme nach einem Moment der Ruhe.

«Ich weiß nicht, wie ich heiße», kam die wahrheitsgetreue Antwort.

«Ich habe nicht gefragt, wie dein Name lautet, sondern wer du bist.»

Sie runzelte die Stirn.

«Bist du Jäger? Oder Gejagter?»

Sie setzte sich den Helm auf.
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«Fast... geschafft...», ächzte einer der beiden, die mit den Rädern das Tor zum Geheimgang öffneten. Es war kaum eine Minute vergangen, seitdem der Gang eingestürzt war.

Der Rest wartete dennoch geduldig, denn solange sie da unten waren, konnte ihnen inzwischen niemand etwas anhaben.

Dann jedoch fing der Tunnel an zu beben.

Da wurden sie dann doch ungeduldig. «Jetzt macht schon», drängte einer.

«Mach's doch besser», schoss einer von denen, die wortwörtlich am Rad drehten, genervt und angestrengt zurück.

Nervös blickten sie alle auf den Ausgang, der nun fast hoch genug für sie war und der sich nur langsam weiter öffnete.

Der eingestürzte Bereich hinter ihnen wies erneut ein bedrohliches Beben auf und einer wurde so nervös, dass er sich unter die hebende Steinplatte hockte und versuchte, sie nach oben zu stemmen.

Das Problem war nicht, dass die Menschen nicht darunter durchkamen. Das Problem waren der eher dicke Anführer und die große Truhe. Ohne den Mann, der sie bezahlte oder alternativ die Truhe, aus der sie sich für lange Zeit gütlich tun könnten, würden sie nicht gehen. Dann gab es da noch die kleine Truhe, aber wozu mit der abhauen, wenn man etwas Besseres haben konnte?

Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach. Diesen Spruch hatten sie leider alle vergessen.

Sie konnten beobachten, wie die Felsen am unteren Teil der Schuttlawine zu beben begannen. Und auf einmal gab es so etwas wie eine Explosion.

Oder eben einen Schlag mit derartiger Kraft, dass die Felsen in kleinere Bestandteile zersprangen und eine ordentliche Staubwolke aufwirbelten.

Als sich der Staub wieder legte, traute keiner von ihnen den eigenen Augen.

Die Verfolgerin war zurück. Sie befand sich vor ihnen, auf einem Knie und mit einer Hand auf dem Boden.

An ihrer Seite hing die Schwertscheide, die jedoch ebenso wie das Katana vollkommen verbogen war. Der gerade erst erbeutete Bogen war schon wieder weg, zerbrochen und im Schutt zurückgelassen. Die Pfeile im plattgedrückten Köcher waren zerschmettert. Ihr Kapuzenumhang hing in Fetzen und die lederverstärkte Rüstung war an mehreren Stellen aufgerissen.

Sie war effektiv unbewaffnet. Grund genug für einen von ihnen, das Schwert zu ziehen und zu versuchen, sie abzustechen.

Die Rote Walküre hob den Kopf, kaum einen Augenblick vor dem Eintreffen der Klinge, und erschrak den Mann beinahe zu Tode.

Ihr Gesicht pulsierte und unter ihrer Haut pochte das Blut mit einer intensiven, violetten Färbung, als würde pure Leerenenergie ihre Adern durchströmen. Doch ihre Augen... kein Weiß, keine Iris, keine Pupille.

Nur ein glühendes Violett mit der Kraft und Intensität eines lodernden Feuers.

Für einen kurzen Moment schien es, als könnte er sie tatsächlich treffen, aber mit einer unnatürlichen Geschwindigkeit lenkte sie die Klinge einfach mit ihrem Unterarm an der flachen Seite ab, sodass der Stich an ihr vorbeiging.

Er taumelte nach vorn, direkt in ihre Arme, wo sie direkt seinen Schädel packte und seinem Leben mit einer brutalen Drehung des Genicks und einem übelkeitserregenden Knacken ein Ende bereitete.

Komplett unter Schock hörten die beiden an den Rädern auf zu drehen und hatten Mühe, in ihrem geistigen Zustand überhaupt den Gang nach draußen offen zu halten.

Doch sie hatten ihren Zweck erfüllt. Der Anführer der Räuber und Sklavenhändler hatte sich inzwischen mit Mühe und Not vorbeigequetscht, nachdem er einem seiner Männer die kleine Kiste abgenommen hatte.

Indes verbreitete die von scheinbar allen Dämonen und bösen Geistern dieser Welt gleichzeitig besessene Kopfgeldjägerin Terror und Schrecken, indem sie den nächsten, der nicht aus der Aktion seines Vorgängers lernen wollte und auf sie losging, einfach mit dem Arm gegen die Wand schleuderte.

Er rutschte leblos am Fels herab und hinterließ an der Wand eine rote Spur.

«KOMMT SCHON!», schrie jener in Panik, der die Steinplatte unterstützend von unten stemmte.

«VERGISS SIE!», kam es in Todesangst von seinem Anführer, der seine Haut zu retten versuchte und einfach nur wollte, dass dieser Zugang endgültig versiegelt wurde. «BESCHÜTZ LIEBER MICH!»

Doch er zögerte. Und während er nur den Eingang offen hielt, musste er mit ansehen, wie seine Kameraden wie von einem Tier mit roher, animalischer und brutaler Gewalt auf grausamste Art einfach abgeschlachtet wurden.

Der erste der verbliebenen drei Männer wurde mit einem deformierten Schädel hinterlassen. Die anderen beiden wollten zwar weg, aber es war wie in einem Alptraum, in dem sie alles konnten, außer sich großartig vom Fleck zu bewegen.

Inzwischen hielt nur noch der unter der Steinplatte den Eingang offen. Die Räder waren unbesetzt. Er brüllte vor Schmerz und Anstrengung, als die Möglichkeit der Flucht seiner Kameraden allein auf seinen Schultern lastete.

Doch als dann dem zweiten einfach nur mit einem kurzen Handgelenkshieb der Kehlkopf zertrümmert wurde und er somit die Fähigkeit zum Atmen verlor, gab er schließlich nach.

Er machte den Schritt auf die andere Seite und ließ die Steinplatte los und das letzte, was er von seinen Kameraden sah, war, wie er mit dem Rücken zu ihm stand und die Rote Walküre zu einem mächtigen Schlag gegen seinen Brustkorb ausholte.

Das letzte hingegen, was er hörte, war das Klatschen von... mindestens Blut und das Knacken von Knochen. Sehr... vielen...

Ihm wurde speiübel und er hielt sich die Hand vor den Mund, als der Eingang endlich versiegelt wurde.

«Hast du den Verstand verloren?», fuhr ihn sein Boss an. «Das nächste Mal hörst du gleich auf meine Befehle! Du hättest uns beinahe beide umgebracht.»

«ICH HABE EUCH DEN ARSCH GERETTET!», brüllte er zurück und packte den dicken Mann zornig am Kragen, sodass er ihn ängstlich anstarrte. «Ohne mich wärt Ihr da noch drinnen! Also zeigt ein verfluchtes bisschen Dankbarkeit dafür, dass ich nicht einfach abgehauen bin und euch mit dieser Irren allein gelassen habe!»

Die Rote Walküre war unterdessen auf der anderen Seite und stand mit ausdrucksloser Miene vor dem verschlossenen Eingang.

Nun, um ganz genau zu sein war es nur der Körper der Kopfgeldjägerin. Ihr Geist war lediglich ein Beobachter der furchtbaren Ereignisse, die sich soeben abgespielt hatten. Was auch immer da von ihrem Körper Besitz ergriffen hatte, was auch immer sie da an das Steuer gelassen hatte, war grausamer und tödlicher als alles, was sie sich hätte vorstellen können.

Sie konnte nicht sprechen. Nur ihre eigenen Gedanken hören.

«Kha'Zix, siehst du das auch?», fragte sie und wurde zunehmend beunruhigt, als sie keine Antwort erhielt. «Kha'Zix? Bist du da?»

Der Leerengeborene antwortete nicht. Sie war allein mit diesem... Wesen, auf das sie sich eben eingelassen hatte. Und es war nicht gerade gesprächsbereit.

Vor dem steinernen Tor angekommen ging ihr Körper in die Hocke und grub die Finger tief in den Boden. Dann packte sie den soliden und tonnenschweren Felsblock von unten.

«Unmöglich», hauchte die Rote Walküre, in ihren Gedanken auf sich allein gestellt. «Das ist zu viel Energie...»

Sie konnte wahrnehmen, wie die Leerenenergie pulsierte und der Fels langsam angehoben wurde. Sehr zum Schrecken der beiden, die dahinter waren.

Mit mörderischem Blick bewegte sie sich darunter hindurch, während sie das Tor weiterhin ohne erkennbare Mühe nach oben hielt.

Ohne Sinn und Verstand versuchte auch der letzte der verzweifelten Leibwächter, sie geradewegs aufzuspießen, doch trotz des großen Gewichts auf ihren Händen verlagerte sie es auf eine einzige Hand, drehte ihren Oberkörper kurz zur Seite, bis die Klinge vorbei war, und griff ihn eisern geradewegs am Hals.

Und während er röchelte, machte sie knurrend einen Schritt nach vorn, ließ das Tor wieder herunterfallen und warf ihn währenddessen direkt darunter.

Sein Abgang war kein schöner Anblick und schon gar nicht begleitet von einem schönen Geräusch.

«Jetzt bist du wieder dran», kam die Warnung.

Die Kopfgeldjägerin wusste noch gar nicht recht, wie ihr geschah, als sie fühlte, wie sie wieder zurück in ihren Körper gesogen wurde.

Es war ein beruhigendes Gefühl. Aber es hatte auch seine Nachteile. Sie fühlte wieder die Auswirkungen jeder einzelnen Wunde. Jeder Schnitt, jeder durchbrochene und durchtrennte Knochen, jede Durchbohrung.

Es machte sie schwach und sie brach beinahe zusammen. Sie atmete schwer und blutete wie aus Strömen.

Bis ihr eine vertraute Präsenz wieder beistand und ihre Einschränkungen linderte.

«Kha'Zix», flüsterte sie beruhigt, erhielt aber als Antwort keinen Mucks, keine Emotion, nicht den kleinsten verräterischen Gedanken. Was sie aber spürte, war der inzwischen extreme Mangel an Energie. Sie brauchte unbedingt Nachschub.

Und da fiel der Blick auf ihr vor grenzenloser Furcht angewurzeltes Gegenüber. Sie zog schnell den Dolch und stürzte sich auf ihn, hungrig auf die gerade so lebenswichtige Energie.
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«Ohlsen, sieh doch!»

Der graubärtige Wikinger mit den durch lange getragene Ketten wunden Handgelenken folgte mit seinem Blick dem Zeigefinger eines ehemaligen Mitgefangenen. Inzwischen hatten sie den Hafen unter ihre Kontrolle gebracht. Bald schon sogar die ganze Insel. Es waren nur noch wenige Blutige Seedrachen übrig. Mit einem Aufstand dieser Größe schienen sie nicht gerechnet zu haben.

Er blickte vom Heck eines der angedockten Schiffe herab und erblickte am unteren Rand der Anlegestellen direkt am Wasser die Frau in Rot.

«Lass sie ziehen. Und auch die Truhe, die sie unter dem Arm hat. Sie hat sich alles davon verdient.»

«Im Ernst? Aber wir brauchen das Gold... viele werden zu ihren Familien zurückkehren wollen. Dafür brauchen sie Geld. Das verstehst du sicher.»

Der graubärtige Wikinger Ohlsen seufzte. «Hör zu, mein Junge. Die Blutigen Seedrachen haben selten einzelne Personen verschleppt. Meistens sind Familien gemeinsam versklavt wurden, gelegentlich halbe Dörfer. Viele dieser Leute haben keine Heimat mehr, in die sie zurückkehren können.»

«Du schlägst vor, dass wir bleiben?»

Er lächelte. «Genau das schlage ich vor. Wir geben den Verlorenen eine neue Heimat. Außerdem», er zwinkerte mit einer Spur Hinterlist, «glaube ich nicht, dass alle Blutigen Seedrachen heute auf dieser Insel waren. Viele werden über die nächsten Wochen und Monate noch herkommen. Und sie wissen nicht, dass wir hier sind.»

Sein Gegenüber lachte. «Ich sollte wirklich aufhören, dir zu widersprechen, alter Mann.»

Er lachte ebenfalls, ließ es jedoch nach einigen Augenblicken zu einem Schmunzeln verebben. «Such dir ein paar Leute zusammen, die nachschauen, wo sie herausgekommen ist und ob es dort noch mehr zu holen gibt. Sollten wir mehr Gold finden, könnte unsere Zukunft schon viel rosiger werden.»
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«Wir müssen an irgendeinen sicheren Ort... Zurück zum Schiff...», krächzte die Rote Walküre schwach und stolperte mit der kleinen Truhe voller Gold unter dem Arm vorwärts.

Kha'Zix antwortete noch immer nicht, versorgte sie aber weiterhin mit dem Nötigsten, sodass sie überleben konnte. Sie beide wussten jedoch, dass die Energie nicht für eine vollständige Heilung reichen würde.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte sie wieder den Tunnel, durch den sie den inneren Ring der Insel betreten hatte. Schwer atmend stützte sie sich für einen Moment an der Wand ab, bevor sie wieder in eine aufrechte Haltung zurückfand und weiterhumpeln konnte.

Zumindest so lange, bis sich irgendetwas an ihrem Fuß festkrallte. Nicht imstande, ihre Balance zu halten, fiel die schwer verwundete Kopfgeldjägerin nach vorn und ließ die Truhe fallen. Ihr auf dem Boden leicht aufschlagender Kopf machte sie benommen, aber sie nahm wahr, wie jemand auf sie mit einem gezückten Messer zukroch.

Ein Blick verriet ihr, dass er einer der Männer war, den sie gleich zu Beginn des Kampfes auf der Insel schwerst verwundet hatte.

Aus purem Instinkt und Überlebenswillen trat sie nach ihm, als er versuchte, eines ihrer Beine zu packen. Nur mit Glück erwischte ihr Stiefel seine Schläfe, sodass er benommen zur Seite rollte und für einen Moment liegen blieb.

Mehr als genug Zeit, um den Dolch des Leerengeborenen zu zücken, an seine Seite zu kriechen und ihm wie wild die Brust zu zerstechen, während er ihr mit ein paar letzten Zuckungen noch einen tiefen Schnitt am Oberschenkel verpasste.

Seine Lebensenergie wurde ihm geraubt und diente nun einzig und allein dem Zweck, sie am Leben zu erhalten.

Wie sie tötete, hatte nichts mehr mit Eleganz oder Technik zu tun. Es war nur noch ein animalisches und tierhaftes Gemetzel.

Nun wieder etwas aufgefrischt kroch sie erneut zu der Schatulle voller Gold, klemmte sie sich ein weiteres Mal unter den Arm und humpelte weiter in Richtung Ausgang, in Richtung Strand.

Der restliche Weg verlief problemlos. Nun war nur noch die Frage, ob-

«Du hast es tatsächlich geschafft», rief Heidrun fassungslos, als sie die in rot gekleidete und blutrot bespritzte Kopfgeldjägerin erblickte. Sie hatte sich an die Anweisungen ihrer Retterin gehalten und war mit ihren beiden minderjährigen Mitgefangenen auf das am Strand liegende Schiff geflohen

Die Rote Walküre brachte ihr nur einen kurzen Blick entgegen, indem sie den Kopf hob, und dann stumm den Rest bis zum Schiff zurücklegte. Ihre Kleidung war zwar stellenweise aufgerissen, aber es war noch genug, um ihre vollkommen unnormalen Wunden zu verdecken, die jeden gewöhnlichen Menschen schon dreimal getötet hätten.

Doch sie spürte keinen Schmerz und der Leerengeborene hielt ihren Körper zusammen.

Dennoch hustete sie kurz, woraufhin ihr eine kleine Menge Blut aus dem Mund lief. «Tja... so ganz unbeschadet leider nicht...», kommentierte die Rote Walküre trocken.

«Ich will ja nichts sagen, aber...» Heidrun war ein wenig verstört von der unnatürlichen Leichenblässe ihres Gegenübers, die auf einen massiven Blutmangel zurückzuführen war. «Du siehst aus, als wärst du kurz gestorben und dann wieder aufgestanden.»

Die Kopfgeldjägerin lachte kurz, aber leise, während sie sich auf das Schiffsdeck schleppte, indem sie sich quälend langsam über die Reling zerrte. Dann legte sie endlich die bis oben hin mit Gold gefüllte, kleine Truhe ab. «Bring das nach unten, ja?», sagte sie und schleppte sich langsam in Richtung ihrer Kajüte an Deck.

Heidrun nickte etwas perplex und hob die Kiste an. «Ach ja, können wir vielleicht noch kurz über-»

«Nein», brummte die Rote Walküre entschieden. «Später. Ich... muss mich mal etwas frisch machen.»

«Ich wollte nur fragen, in welche Richtung es geht...»

Die Kopfgeldjägerin seufzte. «Osten», antwortete sie schließlich, bevor sie in ihrer Kajüte verschwand.

Die schwarzhaarige junge Frau brachte also die Kiste unter Deck, wo sie auch die beiden Kinder zu ihrer eigenen Sicherheit angewiesen hatte zu bleiben. Nur für den Fall, dass doch noch ein Mitglied der Blutigen Seedrachen aufgekreuzt wäre.

«Sie ist wieder zurück?», fragte Aethel, das Mädchen, leise.

«Ja, ist sie. Sie muss wohl ihre Wunden verarzten. Keine Sorge, ich spreche mit ihr darüber, wie es mit euch weitergehen soll.»

«Wenn es sie überhaupt interessiert», brummte der Junge, dessen Name Eadmund war. «Ich traue ihr nicht.»

«Ich mag zwar auch nicht so recht wissen, was ich von ihr halten soll», entgegnete Heidrun, «aber sie hat uns aus diesem Loch befreit, die Flucht dutzender, vielleicht hunderter anderer Menschen ermöglicht und dabei ihr Leben auf's Spiel gesetzt. Also wenn das hier irgendein Trick sein sollte, um uns in irgendeine weitere Art Falle zu locken, dann ist das wirklich der mieseste aller miesen Pläne gewesen.»
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«Scheiße, ist das mies gelaufen...», fluchte die Kopfgeldjägerin erschöpft und ließ sich in einen Bottich voll Wasser sinken.

Viel mehr stand gar nicht in der Kajüte. Ein Bett, ein Schrank, und ein Bottich voller Wasser.

Jeder normale Mensch müsste sich eigentlich denken, wofür zum Henker man auf dem offenen, manchmal nicht ganz ruhigen Meer einen Behälter mit Wasser brauchte, der bei höherem Wellengang eh seinen Zweck verfehlen würde...

Aber sie war einfach nur froh, dass sie die Möglichkeit hatte, all das fremde Blut aus ihrer Kleidung loszuwerden und ihre eigenen Wunden auszuwaschen.

Sie hatte sich nicht eines einzigen Kleidungsstücks entledigt und badete stattdessen einfach in voller Montur. Es war einfacher, als alles separat zu waschen. Sie zog den Gesichtsschleier nach unten und streifte die Kapuze zurück. Der Bereich um ihre Augen war mit Blut besprenkelt.

«Weißt du, Kha'Zix», murmelte sie mit geschlossenen Augen und mit nach hinten gelegtem Kopf, «du kannst ruhig wieder etwas sagen.» Dann öffnete sie die Augen einen Spalt breit und sah in ihre linke Hand.

Bevor sie in ihr Bad gestiegen war, hatte sie dem Schrank ein kleines Fläschchen mit dem so wertvollen Heilelixier entnommen, dessen Hauptzutat laut ihrer Lehrmeisterin Donner anscheinend Nachtschattenspeichel war.

Wie auch immer sie daran gekommen war...

Auf jeden Fall befand sich dieses kleine Fläschchen in ihrer Hand. Sie wollte es gerade entkorken und überlegen, wie viele Tropfen sie denn nun einnehmen sollte. Denn immerhin hatte der Leerengeborene sie immer und immer wieder im Verlauf des Tages gewarnt, dass die Energie für einen vollständigen Heilvorgang nicht ausreichen würde.

Und Donner hatte sie auch ständig vor diesem Heilmittel gewarnt, das schnell zu einem Gift werden konnte. Denn obwohl es alle regenerativen Funktionen des Körpers auf einmal in Gang setzte, war es auch gut möglich, dass dieses Wundermittel sie sehr schnell töten konnte, da es jede Menge Kraft und Energie forderte. Bei zu großer Einnahme könnte es also vorkommen, dass sie sich selbst tötete.

Sie kam gar nicht dazu, zu Ende zu denken. Denn ein stechender, glühender Schmerz bohrte sich auf einmal in ihren Schädel.

Vor Schock sog sie viel Luft ein und ihr Körper zuckte im Versuch, sich dagegen zu wehren.

Das war eine andere Sorte Schmerz. Gegen körperlichen war sie gewappnet, darauf wurde sie bis auf's Äußerste trainiert, aber diese Qual...

Sie ging von ihrem Geist aus.

Irgendetwas bohrte sich in ihren Verstand und wühlte darin herum. Sie versuchte ihren Geist abzuschirmen, anzukämpfen, sich irgendwie zu wehren.

Aber die Präsenz in ihrem Kopf war zu mächtig und sie war ihrer Gnade vollkommen ausgeliefert. Was auch immer es war, es hätte sie jeden Augenblick töten können.

Dann jedoch zog es sich zurück. «Tut mir leid, Kleine», knurrte eine ihr sehr gut bekannte Stimme, «aber ich musste sicher gehen.»

«Kha'Zix?», keuchte sie, während er sich aus ihrem Geist so weit zurückzog, dass es nur noch bis zur inzwischen gewohnten Kommunikation kam. «Was... was war das gerade eben?»

«Das war ich», gab er bereitwillig und missmutig zu.

«Sag mal, hast du sie noch alle?!», fluchte sie lautstark und hielt sich den Schädel. «Was hast du gemacht?»

«Sag du es mir!», keifte er zurück. «Was war das vorhin?»

«Wovon redest du...?»

«Stell dich nicht dumm, Kleine! Was war das vorhin in der Höhle?», fragte er nun präziser, aber keinesfalls mit weicherer Stimme. «Meine Energie war am Ende. Ich hatte mich bereits aus deinem Geist zurückgezogen. Ich war gerade dabei, unsere Verbindung zu unterbrechen, als du auf einmal förmlich mit Energie geflutet wurdest!»

«Und darum wühlst du in meinem Schädel herum?», knurrte sie zurück.

«Nein!», widersprach er gereizt. «Ich wollte wissen, was du getan hast. Ein gewöhnlicher Mensch wie du könnte niemals so viel Kraft wortwörtlich aus dem Nichts aufbringen! Und schon gar keine Leerenenergie! Und wenn ich das nicht gewesen sein kann, gibt es also nur eine Erklärung. Du hattest irgendetwas damit zu tun, auch wenn ich nicht weiß, was, oder wie du es angestellt hast, aber eines steht fest: Ein Mensch kann so etwas nicht getan haben. Also wer bist du?»

«Was genau willst du jetzt von mir hören?», entgegnete die rothaarige Jägerin wütend. «Ich weiß es nicht! Ich habe an nichts vor der Vulkaninsel jegliche Erinnerung. Oder willst du mich jetzt auch noch fragen, ob ich mich als Jäger oder Gejagter einschätze?!»

«Warte...» Die Stimme des Leerengeborenen verlor jeglichen Ausdruck, so wie ein Gesicht hätte unlesbar werden können. «Wie war das...?»

«Jäger oder Gejagter», wiederholte sie unsicher. «Wieso? Ist das wichtig?»

Für einen Moment blieb er still. Er gab nichts von sich, was man auf irgendeine Weise hätte interpretieren können. «Zwei», sagte er schließlich knapp.

«Was?»

«Zwei Tropfen. Mehr nicht.»

Schien so, als wolle er nicht mir ihr darüber reden. Schulterzuckend, doch mit einer bleibenden Spur Misstrauen entkorkte sie das kleine Fläschchen nun doch und träufelte sich langsam zwei Tropfen auf die Zunge, bevor sie den Korken wieder aufsetzte, das Wundermittel beiseitelegte und es sich einigermaßen gemütlich zu machen versuchte.

Inwiefern das auch immer in einem Holzbottich möglich war.

Dann begann der Prozess.

Hätte sie Kha'Zix nicht, würde er Körper sich nun selbst aufzehren, um die tödlichen Wunden zu schließen. So bezog sie jedoch ihre Energie aus seinem nach diesem Kampf sehr beschränkten Reservoir.

Tatsächlich waren die Vorräte an Leerenenergie derart aufgebraucht, dass die vielen schweren Wunden gar nicht bis zu Ende versorgt werden konnten.

Die inneren Blutungen wurden zuerst aufgehoben. Dann verband sich das Fleisch in ihrer Brust und ihrem Bauch, wo sie an diesem Tag zweimal vollständig durchbohrt wurde. Als nächstes wurde der Bruch ihres Schlüsselbeins aufgehoben und der tief gehackte Schnitt versorgt.

Viele der kleineren Schnitte und Schürfwunden konnten vollständig beseitigt werden. Es war, als hätte sie sich an diesen Stellen nie verletzt. Doch da, wo die Schäden am größten waren, dort konnte nur noch Schorf gebildet werden, bevor die Wirkung der zwei Tropfen nicht mehr ausreichte. Und es war gut so, dass die Heilwirkung aufgehört hatte, denn die Leerenenergie hätte bei Weitem nicht mehr ausgereicht und ihr Körper hätte sie selbst für die Heilung angezapft.

Der Einfluss der Leerenenergie auf ihren Körper schwand und sie machte einen tiefen Atemzug, als sie wieder ohne Fremdeinwirkung leben konnte, denn der einzige Grund dafür, dass sie noch nicht tot war, war die Aufrechterhaltung ihrer Lebensfunktionen durch diese nicht von dieser Welt stammende Energie.

Die Rote Walküre sah an sich herab. Fünf Wunden würden Narben hinterlassen. Zuerst der Stich, durch welchen sie hinterrücks durchbohrt wurde. Narben würden an ihrem Rücken an der Einstichstelle und vorne inmitten ihrer Bauchmuskulatur zurückbleiben.

Dann jene Verletzung, bei der ihr Schlüsselbein halbiert wurde. An der Stelle würde eine Narbe von der vorderen Seite bis zur Hinterseite der Schulter reichen.

Die dritte Wunde rührte vom Kampf in den unterirdischen Tunneln her und prägte sich durch eine weitere tödliche Stichverletzung aus, die jedoch frontal geschehen war und anscheinend beide ihrer Lungenflügel schwer angeschnitten hatte. Dort und auf an der entsprechenden Stelle ihres Rückens würden ebenfalls Narben entstehen.

Nummer Vier hatte ihren Ursprung darin, dass ihr in die Hüfte gehackt wurde.

Und die fünfte, die letzte Verletzung rührte vom letzten verzweifelten Kampf her, bei dem ihr Oberschenkel einen schweren Schnitt davongetragen hatte. Auch dort konnte sie eine dicke Narbe erwarten.

Sie atmete noch einmal tief durch, befreit und so gesund, wie man den Umständen entsprechend sein konnte. Das Wasser um sie herum war blutrot. Seufzend stieg sie wieder aus dem Bottich und beugte sich nun stattdessen darüber, um ihren Kopf und die langen, rotbraunen Haare in das blutige Wasser zu hängen. Mit den Händen schrubbte sie sich über das Gesicht, um das getrocknete Blut von ihrer Haut zu lösen. Dann wrang sie noch notdürftig die Haare aus und legte sie anschließend einfach über ihre Schulter.

Sie verstaute die kleine Flasche mit dem heilenden Elixier wieder in dem Schrank, legte Verbände über die heilenden Wunden, um ihr Ausmaß zu verstecken, zog sich die Kapuze über den Kopf, den Schleier vor das Gesicht und wollte gerade wieder aus ihrer Kajüte gehen, um mit Heidrun das versprochene Gespräch zu führen, als-

«Lass mich für einen Augenblick hier», sprach Kha'Zix kühl.

Sie runzelte die Stirn. Er sprach auf eine Weise, die keinen Widerspruch zulassen würde. «Haben wir ein Problem miteinander? Wenn ja, würde ich es zumindest gern wissen.»

«Wir haben kein Problem miteinander. Zumindest nicht, wenn du mich hierlässt.»

Sie brummte missmutig und augenrollend etwas Unverständliches, zog den Dolch und verstaute ihn sicher neben dem Elixier, bevor sie ihn tatsächlich allein ließ.

Der Leerengeborene ging in sich. Er suchte. «Wo versteckst du dich?», murmelte er zu sich selbst.

Er konnte ihre Anwesenheit fühlen. Sie war hier bei ihm, wahrscheinlich gar in diesem Dolch, aber er konnte sie dennoch nicht finden.

Wie lange war sie schon da?

Seit einigen Stunden? Nein... seit Tagen? Wochen?

Ein weiterer Gedanke kreuzte seinen Verstand, während er weiter nach einer Spur ihrer Anwesenheit suchte.

Was, wenn sie schon die ganze Zeit da war?

Er knurrte, gereizt wegen seiner eigenen Erfolglosigkeit. «Wie bist du uns in diese Welt gefolgt, Kai'Sa?»

Er erhielt keine Antwort, konnte aber zumindest eine Emotion wahrnehmen.

Belustigung.
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Fast eine Woche später war die Berserker-Insel schließlich in Sicht. Die Rote Walküre trat vom Bug zurück und machte sich daran, das Segel neu auszurichten. Heidrun sah ihr dabei zu.

«Also...», begann die schwarzhaarige junge Frau. «Wie wird das hier ablaufen?»

Sie erhielt nicht einmal einen Blick, während ihr geantwortet wurde. «Ich bringe dich zu deinem Bruder. Er gibt mir mein Geld. Dann bin ich weg. Ende der Geschichte.»

Heidrun seufzte. «Das war mir schon klar. Was ich wissen wollte, ist aber: Wie geht es mit den beiden weiter?»

Nun musste die Kopfgeldjägerin tatsächlich zu ihrer Gesprächspartnerin schauen, welche auf die beiden Kinder zeigte, die einfach nur stumm an der Reling saßen und die beiden Frauen mit einer Vielzahl von Emotionen ansahen.

Blicke auf Heidrun waren gefüllt von Zuneigung und Sorge. Sie wussten, wo sie hingehen würde, aber sie wussten nicht, was danach passierte.

Richteten sie jedoch ihre Augen auf die Rote Walküre, so waren sie gefüllt mit Neugier, die zu einem kleinen Teil aus Misstrauen erwuchs, aber auch Ehrfurcht und... Angst? Sie wussten nicht, was von der rot gekleideten Kriegerin zu erwarten war. Die gesamte Reise über hatte sie sich als Rätsel erwiesen. Kein Name, keine Vergangenheit, keine nennenswerten Emotionen wie Empathie. Als würde sie die Kinder lediglich als Teil einer Arbeit ansehen.

Aber sie hatte ihnen das Leben gerettet, obwohl sie schon mehrfach klargestellt hatte, dass Heidrun eigentlich ihr einziges Ziel war. Das musste für irgendetwas zählen.

Der forschende Blick der Roten Walküre richtete sich direkt auf die beiden Kinder, die nur mit großen Augen zurücksahen. Aethel, das Mädchen, wandte ihren Blick nach wenigen Sekunden ab, während ihr Bruder Eadmund sie nur weiter argwöhnisch anstarrte.

«Also?» Heidrun machte noch einmal ungeduldig auf sich aufmerksam. «Du hast versprochen, du überlegst dir etwas.»

Die Kopfgeldjägerin seufzte.

Es entsprach der Wahrheit. Während ihres Gesprächs vor einer Woche hatte Heidrun ihr eröffnet, dass die Kinder nicht aus dem Archipel stammten.

Sie waren die Kinder von Christen. Vor etlichen Monaten hatten sich die Blutigen Seedrachen in englischen Landen auf Raubzug gegeben, alles von Wert mitgenommen, einige der Dorfbewohner einfach abgeschlachtet und den Großteil zum Zwecke der Sklaverei ihrer Freiheit beraubt.

Daher trugen sie englische Namen und – schlimmer noch – den christlichen Glauben.

In Gefangenschaft interessierte das niemanden, aber man konnte nicht erwarten, dass Wikinger quasi in freier Wildbahn christliche Kinder in Frieden lassen würden.

Um es mal milde auszudrücken.

Daher war es Heidrun ihre Sicherheit besonders wichtig, selbst wenn sie nicht mehr auf sie aufpassen könnte.

«Gib ihnen andere Namen», ordnete die Rote Walküre schließlich an. «Mir egal welche. Hauptsache nordisch.»

«Neue Namen allein werden ihnen kein neues Leben ermöglichen», widersprach Heidrun irritiert.

«Nein, werden sie nicht. Aber es ist ein Anfang.»

«Versprich mir wenigstens, dass das nicht alles war...»

«Versprechen werde ich gar nichts. Aber wenn ich sehe, was ich noch für sie tun kann, dann werde ich es tun. Und jetzt verpass ihnen ihre neuen Namen.»

Heidrun seufzte niedergeschlagen und lächelte die beiden Kinder an, während sie überlegte. Dann schließlich hatte sie eine Idee. «Jarn», sagte sie, mit Blick auf Eadmund, dessen Augenbrauen in die Höhe wuchsen. «Es bedeutet „Der Eiserne."»

Die Rote Walküre konnte nur anerkennend nicken. Der Name passte, so wie er sie immer argwöhnisch anstarrte. «Und das Mädchen?»

Heidrun grübelte einen Moment, während Aethel sich nicht entscheiden konnte, ob sie in das Gesicht der Kopfgeldjägerin schauen wollte oder doch lieber auf ihre eigenen nervös rumspielenden Finger.

«Ich denke...», sprach Heidrun langsam, «Maer könnte passen.»

Hinter sich hörte sie, wie die Rote Walküre scharf die Luft einsog. Alarmiert drehte sie sich um und sah, wie die rot gekleidete Kopfgeldjägerin ihre linke Hand auf die rechte Schulter drückte und gerade die andere Hand zu ihrer Stirn führte, als hätte sie Schmerzen.

«Ist alles in Ordnung?», fragte die schwarzhaarige Wikingerin besorgt. «Ist eine der Wunden aufgegangen?»

«Was? Nein, nein...», murmelte die Rote Walküre, die selbst nicht so recht wusste, was diese Reaktion in ihr hervorgerufen hatte. Kurioserweise schien es kein körperlicher Schmerz zu sein wie der, gegen den sie praktisch immun war.

Es war wieder ein ähnliches Gefühl wie das, als würde sich Kha'Zix durch ihren Verstand wühlen. Es war geistiger Schmerz. Aus welchem Grund auch immer...

«Mir geht es gut», murmelte sie, kniff kurz die Augen zu und öffnete sie dann wieder, während sie tief durchatmete. «Wie kommst du auf den Namen?», fragte sie mit vorsichtiger Neugierde. Sie wusste nicht wie oder warum, aber dieser Name war... irgendwie seltsam.

«Auf den kleineren Inseln dieses Archipels ist es öde und langweilig. Informationen und neue Geschichten hört man nur selten», meinte Heidrun schulterzuckend. Dann lächelte sie. «Aber auf Berk soll es eine Häuptlingstochter namens Maeri gegeben haben.»

Die Rote Walküre schwieg und runzelte die Stirn. Aethel hingegen spitzte die Ohren. «Und wie war sie?», fragte das junge Mädchen neugierig.

«Viele Söhne von Häuptlingen lernten zu kämpfen, anzuführen und ein Dorf zu verwalten. Töchter hingegen werden meist verheiratet, um Bündnisse zu stärken oder zu erschaffen. Sie wurden darauf trainiert, sich um Haushalte und Kinder zu kümmern oder Wunden zu versorgen», erklärte die Schwarzhaarige. «Aber Maeri soll nicht nur bildhübsch, sondern auch stark und eigensinnig gewesen sein. Sie wurde von der Dorfheilerin unterrichtet, Verletzte zu heilen, aber die Jagd war ihre Leidenschaft. Aber eines machte sie vor allem anderen aus: Sie liebte und beschützte ihre Familie, vor allem ihren Bruder.»

Die beiden englischen Geschwister lächelten. «Was ist aus ihr geworden?», fragte Aethel. Auch die verschleierte Kopfgeldjägerin legte gespannt den Kopf schief.

Heidrun seufzte betrübt. «Nur wenige Wochen bevor mein Dorf niedergebrannt wurde, hörten wir letzte Gerüchte über sie. Ein Händler meinte, ihr so geliebter Bruder hätte sich mit den Drachen verbündet und sie ermordet. Ein anderer sprach davon, dass sie den Tod durch ihren eigenen Verlobten fand. Vielleicht eine Affäre mit einem anderen. Und noch ein letzter hatte wohl aufgeschnappt, dass sie bei einem Drachenangriff entführt und seither nicht mehr gesehen wurde.» Sie zuckte nur sanft mit den Schultern. «Ich weiß nicht, welche dieser Geschichten wahr ist, aber ich schätze, es steht fest, dass sie nicht mehr lebt.»

Eine erdrückende Stille machte sich unter den vieren breit, bevor die Rote Walküre in Richtung ihres Ziels sah. «Wir sind gleich da», verkündete sie sanft. «Ich werde diese Nussschale für's Anlegen vorbereiten.»

«Moment noch», warf Heidrun ein und trug ein etwas schelmisches Grinsen auf den Lippen. «Du brauchst auch noch unbedingt einen Namen.»

«Was?» Ihr Gegenüber schnaubte. «Wozu?»

«Ich will dich nicht immer „Rote Walküre" oder „Kopfgeldjägerin" nennen. Und ich bin sicher, andere werden das auch lästig finden», sprach die junge Frau und tippte sich nachdenklich an ihr Kinn. «Morgade?»

«Mutter Rätsel?» Die Rote Walküre schnaubte grinsend und schüttelte den Kopf, während sie das Segel neu ausrichtete und ein Stück einholte, um etwas Tempo zu verlieren. «Ich schätze, es gibt schrägere Namen... Also ja, was soll's.»
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Es dauerte noch eine Weile, aber schlussendlich legten sie an den Docks der Berserker-Insel an. Ihre Passagiere waren noch etwas zögerlich, vor allem Heidrun, doch die Rote Walküre stieg bedenkenlos über die Bordwand nach oben auf den Laufsteg.

Der Hafen war unverkennbar auf größere Schiffe ausgerichtet als ihr eigenes. Die Berserker hatten sich mühsam einen Ruf als nahezu unbesiegbare Kampfkraft aufgebaut, völlig unabhängig von See oder Land. Entsprechend groß waren auch ihre Schiffe.

Dieser Stand als der vielleicht stärkste aller Wikingerstämme war vor allem dem Umstand zu verdanken, dass ihre Insel vergleichsweise groß und fruchtbar war, aber ihr entscheidender Vorteil war der Mangel an Drachenangriffen. Keiner wusste so recht warum, nur dass es eben so war. Und der vernünftigere Teil der Berserker war dafür dankbar. Was nicht heißen soll, dass sie teil mehr, teils weniger scherzhaft sich damit brüsteten, für die Drachen vielleicht einfach eine Nummer groß zu sein.

Schließlich hievten sich auch Heidrun, Aethel und Eadmund vom Schiff auf etwas, das nicht permanent schaukelte, während ihre rot gekleidete Begleiterin bereits auf einen Berserker zuschritt, der wohl für die Überwachung des Hafens zuständig war.

Wie ein perfekt gedrillter Wachsoldat streckte er die flache Hand nach vorn und rief: «Halt!»

Die Rote Walküre machte noch einige Schritte, bevor sie zwei Meter vor dem einen halben Kopf größeren Mann stehen blieb.

«Nennt Name, Beruf und Anliegen!»

Den Namen zu nennen sparte sie sich. «Dein Häuptling hat mich vor zwei Monaten angeheuert, um eine Person zu töten und eine andere nach Hause zu bringen. Mein Auftrag ist erfüllt.»

Seine Augen hellten kurz auf, als ihm soeben klar wurde, dass er diese Person vor sich schon einmal gesehen hatte. «Ich kenne Euch», kam es aus ihm heraus. Seine wachpostenhafte Haltung entspannte sich und er sah wirklich aus, als wäre er einfach nur froh, sie zu sehen. «Und Ihr hattet wirklich Erfolg?», fragte er gespannt und erhielt dafür ein leichtes Nicken, bevor er hinter sein Gegenüber sah und die schwarzhaarige junge Frau erblickte, die sich nach links und rechts vorsichtig umsah. «Ist sie das?»

«Sie hat die Kette, das Mal, heißt Heidrun und wurde adoptiert. Sie ist es ganz sicher.»

Als Heidrun knapp hinter der Kopfgeldjägerin stehen blieb und schließlich einmal den Kopf nach vorn richtete, war sie völlig perplex, als der Berserker vor ihr auf ein Knie ging und den Kopf senkte. «Heidrun Oswaldson, Euer Bruder erwartet Eure Ankunft schon seit Langsam und wir sind alle überglücklich, dass Ihr endlich zu Hause seid.»

Heidrun, die kein einziges Wort rausbekam, sah nur ihre rote Begleiterin an, die sie hinter ihrer Maske angrinste und flüsterte: «Der wird nicht wieder aufstehen, bis du es ihm sagst.»

«Äh... steh auf», sprach die junge Frau also unsicher und der Mann gehorchte umgehend.

Für einen Moment fiel sein Blick auf die beiden Kinder im Hintergrund und er runzelte für einen kurzen Moment die Stirn, bevor er einfach mit den Schultern zuckte und wieder lächelte. «Folgt mir bitte. Der Häuptling wird außer sich sein vor Freude.»
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Dagur saß auf einem Stuhl hinter einem Tisch in seiner eigenen Häuptlingshütte und rieb sich die Schläfen. Soeben hatte er einen Bericht über die Ausbeute der letzten Raubzüge erhalten.

Kurzum: Es hatte sich nicht unbedingt als profitabel erwiesen.

Es war schwer für ihn zu sehen, wie seine seit der Kindheit bestehenden Träume einfach nicht wahr werden wollten; Dem Archipel seinen Stempel aufzudrücken.

Sein Vater Oswald hatte in seinen nicht ganz so friedliebenden Jahren den Vorteil, dass sie nicht von Drachen angegriffen wurden, beim Schopf gepackt und eine riesige Armada aus dem Boden gestampft. Mit zunehmendem Alter wurde er jedoch zunehmend weicher und so verlor die große Flotte der Berserker ihren Nutzen. Die meisten Schiffe wurden stattdessen als Handelsschiffe genutzt oder es wurden Verträge mit anderen Wikingerstämmen geschlossen, sodass sie gegen Geld bei Drachenangriffen aushalfen.

Lange Zeit waren sie eine Schutzmacht der Wikinger.

Bis Oswald eines Tages verschwand und seinen damals noch nicht ganz erwachsenen Sohn ohne jegliche Erfahrung, aber dafür mit einer Menge Ambitionen zurückließ.

Sein Mangel an Führungserfahrung wäre noch vor seinem Antritt als Häuptling Dagurs Ende gewesen, aber er war schlau. Er verbreitete die Nachricht, er habe seinen Vater getötet, denn wenn es eine Sache gab, der Wikinger bedingungslos folgten, dann war es Stärke.

Unter Dagur wurde die Schutzmacht der Berserker zum Feind vieler Wikingerstämme, als er schließlich beschloss, seinen Stamm zu altem Ruhm zurückzuführen.

Wochen und Monate lief es gut. Mit jedem Dorf und jedem Stamm, den sie überfielen, gelangten sie auch an Gold, Juwelen, Waffen und andere wertvolle Ressourcen. Die Kassen seines Stammes füllten sich stärker als zuvor.

Doch ein Schaf kann man zwar mehrfach scheren, aber nur einmal häuten.

Da die kleineren Stämme ihre Unterstützer verloren und von ihnen beraubt wurden, waren sie Drachenangriffen schlimmer als je zuvor ausgeliefert. Und kaum waren sie wieder anständig auf die Beine gekommen, kaum hatten sie wieder einen Bruchteil ihres vorherigen Wohlstandes mit viel Mühe wieder aufgebaut, da kamen die Berserker ein zweites Mal.

Das war der Zeitpunkt, an dem Dagur spätestens bemerkte, dass er einen riesigen Fehler gemacht hatte. Denn der Ruf seines Stammes war dahin und somit auch die Möglichkeit, anderen Wikingerstämmen Schutz gegen Drachen anzubieten. Und diesen Ruf hatte er gegen einen vorübergehenden Reichtum eingetauscht, der den Berserkern auf lange Sicht nicht helfen würde.

Ein Mitglied seines Rates von persönlichen Vertrauten begann bereits durchzurechnen, wie viel sie mit ihrem alten Kurs verdient hätten und ab wie vielen Jahren sich das alte System als profitabler herausgestellt hätte.

Und soweit er Dagur hatte wissen lassen, sahen die Zahlen bereits jetzt nicht gut aus.

Der junge Häuptling wusste genau, dass er einen Fehler gemacht hatte. Nur wie er zu berichtigen war, das wusste er nicht.

So zynisch es auch sein mag, aber einen Lichtblick hatte er in den letzten Monaten erfahren. Denn bevor er seine Leute auf Raubzüge schickte, hatte er zuerst Spione in alle möglichen Dörfer entsandt, die ihn mit Informationen über die Verteidigungsanlagen und -maßnahmen versorgen sollten.

Einer seiner Informanten hatte jedoch besonders gut aufgepasst und so erfuhr Dagur von einer jungen Frau, zwei Jahre jünger als er und noch nicht ganz erwachsen, die den Namen Heidrun trug, adoptiert wurde, eine alte Kette mit einem Skrill – dem Wappendrachen der Berserker – trug und einem Muttermal am Oberarm.

Es war ein Zufall sondergleichen, denn im Gegensatz zu Dagur wusste der Informant ganz genau, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit seine Schwester sein musste. Dagur hatte schon fast vergessen, dass er überhaupt jemals eine Schwester hatte, bis er einige ältere Dorfbewohner befragte.

Es war wohl in der Zeit, als ein Mann namens Drago Blutfaust bei einem Treffen aller Wikingeroberhäupter jeden einzelnen von ihnen außer Haudrauf, den Häuptling von Berk, verbrennen ließ.

Oswald schien damals Glück im Unglück zu haben. Er war damals auf dem Weg zu dem Treffen, doch er geriet in einen fürchterlichen Sturm, der sein Schiff versenkte und ihn mitsamt der Mannschaft bei einer nahen Insel an Land spülte.

Das Problem: Er hatte seine Tochter mitgenommen, die zu dem Zeitpunkt gerade erst zweieinhalb Jahre alt war. An diesem Tag trieb das Schicksal sie in eine andere Richtung. Ein kleines Mädchen, das neben ein paar ausgewählten Worten gerade mal ihren Namen aussprechen konnte.

Und so verschlug es sie auf eine andere Insel ganz in der Nähe. Eine, auf der sie bis vor Kurzem lebte.

Als Dagur von ihr erfahren hatte, war er gerade in den Vorbereitungen für seine Raubzüge und machte den gravierenden Fehler, seine Prioritäten falsch zu setzen.

Denn während er und fast die gesamte Armada der Berserker sich in ihre ehrenvolle Kampagne des erniedrigenden Herumschubsens kleinerer Stämme begaben, heuerte Dagur für den viel zu wichtigen Auftrag die viel zu falschen Leute an.

Er kontaktierte einen gewissen Jarun Gendarson. Ein tüchtiger Geschäfts- und Handelsmann.

Dachte Dagur jedenfalls. Er bezahlte ihn im Voraus.

Jarun Gendarson nutzte das Chaos im Archipel. Statt Heidrun aus ihrer Heimat mitzunehmen und zu den Berserkern zu bringen, legte er ihr ganzes Dorf in Schutt und Asche, raubte jegliche Wertsachen und stahl den Bewohnern der Insel die Freiheit. Und wer sich wehrte, dem nahmen sie das Leben.

Als der junge Häuptling der Berserker Wochen später nach seiner ersten Runde von Raubzügen davon Wind bekam, war er außer sich vor Zorn. Nur mit Mühe gelang es seinen Beratern, ihren Häuptling davon abzubringen, dem Sklavenhändler gleich eine ganze Flotte auf den Hals zu hetzen.

Denn Jarun versteckte sich und niemand wusste so recht, wo. Die Suche nach ihm wäre eine reine Verschwendung gewesen.

Einer seiner Berater erinnerte sich jedoch, dass Oswald zu seiner Zeit einige wenige Male mit Kopfgeldjägern zu tun hatte. Ein ganz besonders verlässliches Beispiel blieb hängen.

Eine Frau, ganz in einer roten Lederrüstung, mit gelben Augen und donnernder Stimme.

Seine Spione fanden eine Frau in roter Lederrüstung, jedoch mit grünen Augen und äußerst schweigsam. Sie stellte sich als Nachfolgerin der vorigen Kopfgeldjägerin heraus.

Und so kam es, dass Dagur der Kopfgeldjägerin einen schwierigen mehrteiligen Auftrag gab: Heidrun zu retten, sie nach Hause zu holen, jeden zu töten, der sich ihr dabei in den Weg stellte und vor allem ganz sicher zu gehen, dass der Strippenzieher, der für die Entführung seiner Schwester verantwortlich war, einen grausamen Tod erfahren würde.

Oh, wenn er nur wüsste, wie grausam dieser Tod war...

Doch er wusste es leider nicht, auch wenn er es sich jede Nacht vor dem Einschlafen vorstellte.

Klar, andere Wikinger zählten Schäfchen, Yaks oder Drachenköpfe. Dagur nicht.

Aber leider hatte er nun schon seit zwei Monaten nichts mehr ge-

Ein Klopfen an der Tür. «Häuptling?», rief eine seiner Wachen. «Hier sind ein paar... Leute, die Euch sehen wollen.»

Dagur runzelte die Stirn. Irgendetwas an der Stimme seiner Wache war faul. Vorsichtshalber legte er eine Hand an den Griff eines Wurfmessers, das sich an seinem Gürtel befand. «Dann sollen sie reinkommen», rief er zurück.

Seine Hand an der Waffe entspannte sich ein wenig, als eine rot gekleidete Frau die Tür öffnete und sie hinter sich weiterhin offen hielt, als wolle sie noch jemanden hereinlassen.

Dagur war sich nicht sicher, ob er sich Hoffnungen machen sollte, nur damit sie wie kleine Blasen zerplatzen könnten, aber als nach der Kopfgeldjägerin eine schwarzhaarige junge Frau in Erscheinung trat, die nur wenig jünger als er selbst zu sein schien, verschlug es ihm glatt die Sprache.

Seine Mutter verstarb lange bevor sein Vater verschwunden war, aber vor ihm stand ihr exaktes Ebenbild.

Das war seine verlorene Schwester, kein Zweifel.

«Dagur», sprach die rot gekleidete Kopfgeldjägerin, die die Tür schloss, nachdem noch zwei Kinder neben ihr hindurchgeschlüpft waren, über deren Anwesenheit sich der junge Häuptling dann doch sehr wunderte. «Sie hat die Skrillkette, das Muttermal am Oberarm und heißt-»

«Heidrun?», fragte Dagur mit einem sehr seltenen, hellen, erwartungsvollen Lächeln. «Schwesterchen?»

«So... so heiße ich?», sprach sie nur unsicher und kratzte sich am Hinterkopf. «Ich schätze, du bist mein Bruder?»

Keiner konnte so schnell reagieren, da hatte er schon die Distanz überbrückt und seine verlorene Schwester in eine feste Umarmung gezogen, die ihm die Atemwege abdrückte.

Während sie kaum ein Wort herausbekam und nur ein paar Male japste, fiel Dagurs Blick auf die zwei Kinder hinter ihr, die ihn nur unsicher und mit so etwas wie Furcht anstarrten. Ein braunhaariges Mädchen und ein blonder Junge.

Schließlich ließ er dann doch los und strahlte die stark unter Atemnot leidende und verunsicherte junge Frau vor sich an. «Wir haben uns so viel zu erzählen.» Er ließ von ihr ab und wandte sich in Richtung der Tür. «IVAR!», brüllte er ohrenbetäubend laut. «BRING UNS WAS ZU ESSEN!»

Bis auf die Rote Walküre zuckte jeder im Raum zusammen.

«Aber ich heiße Lars...», tönte es nur kleinlaut von draußen, doch davon wollte Dagur nichts hören.

«MIR DOCH SCHNURZ! JETZT MACH DICH AUF, HOPP HOPP!»

Prompt hörte man sich schnell entfernende Schritte, während sich Dagur wieder den wirklich wichtigen Dingen zuwandte.

Vorher jedoch meldete sich jedoch die Kopfgeldjägerin, die mit verschränkten Armen ein Stück abseits stand und sich räusperte. «Ich habe getan, was verlangt wurde. Heidrun ist bei Euch und ich hätte gern meine Bezahlung.»

«Wenn der Verantwortliche für all das hier auch wirklich tot ist...?», deutete Dagur an, um sich abzusichern.

«Ich bin mir zumindest sehr sicher, dass ich den richtigen erwischt habe», erklärte die Rote Walküre. «Doch sollten klare Beweise für das Gegenteil sprechen, so war unsere Abmachung klar: Ich werde das richtige Ziel kompensationslos eliminieren, sobald zu mir Kontakt hergestellt wird.»

Der junge Häuptling nickte anerkennend. «Der Ruf deiner Vorgängerin scheint auch bei dir gerechtfertigt zu sein. Nun gut, sag meinem Schatzmeister in der Großen Halle, sein Häuptling hätte noch... Spielschulden offen, weil er auf Kopf gesetzt hat.»

«Ganz genau so?»

«Ganz genau so», bestätigte Dagur nickend. «Anderenfalls wird er dir nichts geben.»

Als sich die Kopfgeldjägerin zum Gehen wandte, räusperte sich Heidrun mit einem Ton der Dringlichkeit. «Soweit ich weiß, hatten auch wir noch eine Abmachung, Morgade», erinnerte sie mit einer ganz besonderen Betonung auf den Namen, den sie der Roten Walküre gegeben hatte.

Sie stand bereits vor der Tür, als sie sich noch einmal umdrehte und die beiden Kinder anstarrte, die noch etwas unbeholfen mitten im Raum herumstanden. «Maer, Jarn, kommt mit. Keine Sorge, wir werden nicht sofort gehen. Ihr werdet euch später noch verabschieden dürfen.»

Die beiden sahen unsicher zu Heidrun, die aber nur aufmunternd lächelte, bis sie schließlich zögerlich mit der maskierten Kopfgeldjägerin liefen, die ohne ein weiteres Wort das Haus verließ.

Dann wandte sich Heidrun wieder seufzend an ihren... anscheinend ihren Bruder.

Dieser grinste kurz. «Sag mir, wessen Kinder sind die zwei? Die gehören doch nicht etwa zu ihr?», fragte er und meinte zweifellos die Kopfgeldjägerin.

«Nein», entgegnete sie und sah betrübt drein. «Sie waren Mitgefangene. Ihre Eltern... nun, sie sind wahrscheinlich tot. Aber ich passe schon seit einer ganzen Weile auf sie auf.»

«Sie können auch hierbleiben, wenn du willst», schlug Dagur vor.

«Ich habe bereits veranlasst, dass sie entweder nach Hause gebracht werden – sofern es nicht vollständig niedergebrannt wurde und dort noch jemand lebt – oder sie ein neues Zuhause finden.»

«Mit wem, der Kopfgeldjägerin?»

«Ja.»

Stille machte sich breit. Ausgesprochen unangenehme. Alles, was zu hören war, war das Knistern der Feuerstelle.

Bis sich schließlich der junge Häuptling wieder aufraffte. «Ich... schätze, du möchtest wissen, warum du hier bist?»

Heidrun verschränkte die Arme und runzelte die Stirn. «So, wie ich das verstanden habe, bin ich jetzt hier, weil jemand die falschen Leute geschickt hat, um mich von meinem Zuhause fortzureißen und mich an einen Ort zu bringen, an den ich mich nicht erinnere und nicht einmal wusste, dass ich von dort stamme.»

Dagur war für einen Moment still, bevor er murmelnd seufzte und sich ins Nasenbein kniff. «Ja, ich schätze, das habe ich verdient...»

«Ich meine, ernsthaft?», fuhr seine Schwester verärgert fort und gestikulierte, als wolle sie eine Fliege verscheuchen. «Eine Warnung wäre schön gewesen. Ein Brief, meinetwegen eine mündliche Botschaft. Am besten wäre vielleicht ein persönliches Gespräch gewesen, aber gar nichts? Nur ein paar Schiffe und Schufte, die mein Zuhause niederbrennen oder jedenfalls den Ort, den ich mein ganzes Leben dafür gehalten habe?»

Er kratzte sich beschämt den Nacken und wollte etwas sagen, aber sie ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen.

«Wirklich Häuptling... ich meine Dagur... meinetwegen auch Bruder. Was genau soll ich mir denn denken, wenn sich meine eigene Familie nicht einmal die Mühe macht, persönlich aufzukreuzen? Wie wichtig kann ich dir schon sein?»

Dagur sah nur auf den Tisch herab und schloss für einen Moment die Augen, während er einen leichten Seufzer ausstieß, bevor er seine Schwester mit einem reuevollen Blick wieder ansah. «Glaub mir, Heidrun, Schwester, ich habe in den letzten Monaten mehr Fehler gemacht, als ich zählen kann. Manche größer, manche kleiner, aber der Fehler, nicht persönlich zu dir zu kommen... der fällt glatt in die „Ich würde gern in der Zeit zurückgehen"-Kategorie. Als ich leider die leider falschen Leute losschickte, dachte ich, die aktuellen Ereignisse ließen es nicht zu.»

«Welche Ereignisse?», fragte Heidrun misstrauisch und erhielt dafür nur einen weiteren mit Reue gefüllten Blick ihres Bruders.

«Nun...» Er räusperte sich. «Ich werde einfach mal die ganze Vorgeschichte zusammenfassen: Ich war kurzsichtig und naiv.» Er bemerkte, wie Heidrun sich einen bissigen Kommentar geradezu verkniff und er schmunzelte. «Ich weiß, was du sagen willst, aber im Ernst. Ich habe den großen Fehler gemacht, die große Armada der Berserker gegen andere Wikingerstämme auf Raubzug zu schicken.»

«Mhm... stell dir einfach vor, was du dachtest, das ich gerade sagen wollte, und leg da nochmal ein wenig drauf.»

«Jedenfalls wollte ich das wieder in Ordnung bringen...»

«Wenn du darauf hinaus willst, dass ich dir einen Rat geben soll, wie man die Situation lösen könnte: Gib den Leuten ihr Zeug zurück.»

«Wenn es doch nur so einfach wäre», brummte der junge Häuptling. «Was wir erbeutet haben, ging direkt in die Instandhaltung der Flotte, in den Aufbau des Dorfes und in die Taschen von Händlern.» Er kniff sich wieder ins Nasenbein. «Aber du hast recht, ich will wirklich deinen Rat. Tatsächlich ist mir deine Anwesenheit deshalb so wichtig. Denn auch, wenn du es bis vor Kurzem nicht wusstest, sind wir dennoch Familie. Du bist die einzige Person, mit der ich bedenkenlos über alles reden kann.»

«Hast du dafür keine Berater?»

«Doch, aber die würden nie etwas sagen, das mir nicht gefällt», entgegnete er schnaubend und grinste. «Und du hast eben erst bewiesen, dass du kein Blatt vor den Mund nimmst. Also, irgendein Vorschlag?»

«Eigentlich...», begann sie langsam und schmunzelte, «hätte ich tatsächlich einen. Ich wurde immerhin fast drei Monate auf einer Insel festgehalten.»

«Und?»

«Wenn ich es richtig verstanden habe, dann war sie jahrzehntelang eine einzige Basis für allerlei Gesindel und Abschaum», antwortete sie. «Es würde mich nicht wundern, wenn dort jede Menge wertvolle Sachen gehortet wurden.»

«Und wenn wir uns die beschaffen, haben wir etwas, das wir den anderen Wikingerstämmen zurückgeben können», realisierte er und lachte. «Oh, ich mag, wie du denkst.»
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Die Kopfgeldjägerin zog einen kleinen Karren mit einigen Gütern hinter sich her, die gebraucht werden könnten. Diese Dinge umfassten diverse Lebensmittel, darunter verschiedenste Sorten Pflanzliches, Fleisch und einige wenige Gewürze, hauptsächlich Salz.

Es war nicht so, dass sie selbst viel mehr brauchte als Brot, Wasser und hin und wieder etwas Trockenfleisch. Das Problem waren ihre Begleiter, die sie kaum mit ein bisschen Standardfutter versorgen könnte.

Und wo wir schon bei den zwei Kindern sind: Für sie hatte die Rote Walküre einfach zwei Hängematten erworben, die sie soeben unter Deck aufspannten. Für den Fall einer Beschädigung hatte sie noch genug Material für eine weitere gekauft.

Das Kopfgeld war – wie vereinbart – recht üppig. Immerhin hatte man sie auf eine wilde Jagd quer durch das Inselreich gejagt, ohne dass sie ein klar definiertes Ziel besaß.

Die kleine Truhe, die sie von der Insel der Blutigen Seedrachen mitgenommen hatte, enthielt nur etwa ein Drittel von dem, was sie noch einmal für den Abschluss dieses Auftrags bekommen hatte. Es war bereits jetzt genug, um sich zur Ruhe zu setzen, auch wenn es ein sehr bescheidenes Leben wäre.

Aber weder Ruhe noch ein bescheidenes Leben war es, woran sie dachte. Stattdessen bereitete sie sich auf eine neue Reise vor. Dazu gehörte aber auch eine entsprechende Ausrüstung.

Daher hatte sich die Rote Walküre Materialen gekauft, um ihre Rüstung reparieren zu können. Außerdem einen neuen Bogen und fünf Dutzend Pfeile, wovon sie stets zwanzig mit sich herumtragen und den Rest auf dem Schiff lassen würde. Eine Waffe für den Nahkampf war auch dabei.

Ein sonderbarer metallener Speer mit einer Klinge so lang wie ein Kurzschwert, den der Schmied zwar nicht unbedingt spottbillig, aber auch nicht gerade zu einem respektablen Preis verkauft hatte. Ein paar Probeschläge auf eine Übungspuppe überzeugten sie jedoch zu einem Kauf, den sie guten Gewissens tätigte.

Der Schmied sagte, er hatte es seit bereits zwei Wochen im Sortiment. Von den Berserkern wollte diese Waffe jedoch keiner. Sie war verdächtig leicht und erinnerte an Silber, was den Anschein von Zerbrechlichkeit und Schwäche erweckte. Die Wikinger verließen sich lieber auf ihre eigenen Waffen.

Er hatte diese Waffe nicht einmal selbst geschmiedet. Nach eigener Aussage war irgendein junger, dunkel gekleideter Kerl mit einer Maske kürzlich aufgetaucht und hatte allerlei Sachen ge- und verkauft. Keiner wusste woher er kam oder wohin er ging, als er fertig war.

Fest stand jedoch, dass die Waffe trotz anfänglicher Skepsis ein kleines Meisterwerk war. Ideal ausbalanciert, überraschend stabil und trotz seiner metallischen Eigenschaften sehr leicht. Keiner wusste, woraus Stiel und Klinge gemacht waren.

Sie zog gerade den Karren an Deck und wollte ihn entladen, als-

«Kopfgeldjägerin!»

Sie sah auf und erblickte Dagur, Heidrun und eine drei Mann starke Leibwache. In diesem Moment wurden Aethel und Eadmund damit fertig, ihre Hängematten unter Deck anzubringen und tauchten daher gerade wieder aus dem Schiffsrumpf auf. Ihre Gesichter erhellten sich, als sie die junge schwarzhaarige Frau erblickten, die ihnen ebenfalls entgegenlächelte.

«Ich wollte mich noch persönlich verabschieden und eine gute Reise wünschen.»

Die Rote Walküre schmunzelte kurz, bevor sie sich an den Schiffsmast lehnte. «Tja, ich werde es wohl für eine Weile etwas sanfter angehen lassen. Dieser Auftrag war tatsächlich fast eine Nummer zu groß.»

Dagur senkte mit ernster Miene kurz anerkennend den Kopf. «Meine Schwester hat mir viel von der Insel erzählt, von der du sie gerettet hast. Du hast mehr als meinen Dank. Für diese Tat hast du meinen tiefsten Respekt.»

«Ich... hatte Hilfe», eröffnete sie vage.

«Vielleicht war es Glück, dass all diese Gefangenen noch fit genug für den Kampf waren», meinte der Häuptling lachend.

«Seid Ihr nur hergekommen, um euch zu verabschieden?»

«Nicht wirklich», erklärte er und lachte noch einmal kurz, bevor er Heidrun für einen Moment ansah. «Hast du Familie?»

«Keine, von der ich weiß. Wieso?»

«Familie ist wichtig.» Die Soldaten hinter ihm runzelten kurz die Stirn und kratzten sich jeweils am Hinterkopf. War ihr Häuptling nicht der, der seinen Vater getötet hatte? Naja... was soll man machen bei jemandem, der den Beinamen „Der Durchgeknallte" trug? «Und ich würde alles tun, um meine Familie in Sicherheit zu wissen, aber...» Er machte noch einmal einen etwas betrübten Seitenblick. «Aber ich habe erkannt, dass ich einiges vielleicht nur schlimmer gemacht habe. Ich war es erst, der meine Schwester in Gefahr gebracht hat.»

«Wir haben eine ganze Weile darüber gesprochen», führte Heidrun an seiner Stelle fort. «Ich fühle mich ganz einfach noch nicht wohl dabei, als Schwester eines Häuptlings auf dieser Insel zu leben. Mit Leuten, die ich kaum kenne, von einem Stamm, das mir unbekannt ist. Ich war der Ansicht, ich müsste vielleicht erst etwas mehr sehen, bis ich einen Ort wirklich „Zuhause" nennen kann. Deshalb habe ich mich entschlossen, ein wenig herumzureisen.»

«Glückwunsch», sprach die Rote Walküre trocken und es entstand eine Stille, die ihr nach und nach klarer wurde, was hier für ein Spiel gespielt wurde. «Oh nein... vergiss es, ich bin doch kein Babysitter!»

Die beiden Kinder hingegen sahen sich gegenseitig und dazu noch Heidrun freudestrahlend an. Sie hätten es natürlich nie laut gesagt, aber die Vorstellung, auf hoher See tage- oder wochenlang allein mit einer mörderischen Kopfgeldjägerin zu sein war irgendwie... beunruhigend und sehr, sehr skurril.

«Ich könnte dich für die Mühen entschädigen», schlug Dagur schulterzuckend vor. «Auch wenn es mich betrübt, so unterstütze ich dennoch ihr Vorhaben.»

«Was ist der Preis?», fragte die Rote Walküre mürrisch und zähneknirschend. «Ich warne Euch, der Rettungsauftrag war schon unorthodox. Ich jage Köpfe und bekomme dafür Geld. Für mehr ist im Wort „Kopfgeldjägerin" kein Platz.»

«Ich habe etwas Besseres als Gold», entgegnete der Häuptling grinsend und entfernte Schwert und Scheide von seinem Gürtel. Er hielt ihr den königlich verzierten Griff hin und sie nahm ihn skeptisch entgegen.

«Ein Schwert...», bemerkte sie missgünstig. «Spannend.»

«Nicht einfach ein Schwert», korrigierte Dagur. «Mein Schwert. Wo auch immer du bist, was auch immer vor sich geht, was auch immer du begehrst, gib dieses Schwert einem Berserker. Er wird es erkennen und dir jeden Wunsch erfüllen.»

«Kann ich mir auch wünschen, nicht noch jemanden mitnehmen zu müssen?», brummte sie.

Er lachte erneut. «Das ist die einzige Einschränkung. Du wirst erst von deiner Pflicht entbunden sein, wenn Heidrun es möchte.»

Die Kopfgeldjägerin schwieg einen Moment, bevor sie hinter sich sah, in die hoffnungsvollen Gesichter der beiden Kinder blickte und anschließend geschlagen seufzte. «Meinetwegen.»

«JA!», riefen die beiden.

«Schnabel halten!», forderte die Rote Walküre nicht unfreundlich, aber auch nicht gerade besonders nett. «Maer, Jarn, ladet den Karren ab und bringt alles nach unten.»

Die beiden kamen der Forderung nur zu gerne nach, als Heidrun mit einem Siegerlächeln an Bord ging und die Kopfgeldjägerin vor sich hin brummend das Schwert des Berserkerhäuptlings an ihrem Gürtel befestigte.

«Ich danke dir», sprach Dagur und neigte kurz seinen Kopf.

Sein Gegenüber schnaubte nur kurz und wollte sich gerade daran beteiligen, die letzten Vorräte zu verstauen, als-

«Wie heißt du überhaupt?»

Sie drehte sich wieder zum Häuptling um und sah etwas nachdenklich drein. Sie bemerkte, wie Heidrun sie von der Seite anblickte. Sie sah ihr mit ausdrucksloser Miene entgegen und wandte sich dann wieder an Dagur. «Nennt mich einfach Morgade.»

Heidrun strahle förmlich.

«Dann wünsche ich eine sichere Reise», sprach der junge Häuptling und neigte noch ein letztes Mal lächelnd den Kopf. «Morgade.»

«Ja.» Inzwischen war der Karren mit den Vorräten leer, also schob sie ihn zurück über die Planke auf den Steg, bevor sie die Planke einholte und ihr kleines Schiff losband und es langsam davontrieb. «Eine sichere Reise.»

Dann wandte sie sich ab, nur um dann Heidrun gegenüber zu stehen. «Welchen Kurs schlagen wir ein?», fragte sie lächelnd und die Kinder, die wieder an Deck kamen, trugen ebenfalls rundum zufriedene Gesichtsausdrücke.

«Wir folgen einfach dem Wind», antwortete sie und setzte das Segel.

Als sie sich an das Steuer setzen wollte, kam ihr Heidrun zuvor. «Ich mach das schon», verkündete sie strahlend.

«Lass sie machen. Wir müssen reden», sprach völlig unerwartet die Stimme von Kha'Zix.

Er hatte seit Tagen kein Wort mehr von sich gegeben. Sie hatte fast vergessen, dass er da war, aber der Dolch hing noch immer an ihrer Hüfte.

«Dann ziehe ich mich für eine Weile zurück. Klopft an, wenn etwas ist», verkündete Morgade – wie sie sich nun scheinbar nannte – und verschwand schnurstracks in ihrer Kajüte. Dann zischte sie leise: «Nett, dass wir mal wieder miteinander reden.»

«Spar dir das schnippische Gehabe, aber spar dir vor allem die Worte. Wir sind nicht mehr allein. Man könnte dich hören», warnte der Leerengeborene. «Stell dir einfach vor, was du sagen willst.»

«So?»

«Gut.»

«Warum wolltest du jetzt auf einmal mit mir reden?»

Die Stimme des Leerengeborenen seufzte. «Donner und ich haben dich über ein Jahr lang die Feinheiten des Körpers und des Kampfes gelehrt, aber kaum ein Wort darüber verloren, wie es überhaupt zu all dem gekommen ist und warum wir tun, was wir tun. Das wollte ich nachholen.»

«Warum jetzt?»

«Sagen wir einfach, es gab... unvorhergesehene Ereignisse, die es erfordern, dass ich dich über alles aufklären muss.»

«Spricht nicht gerade für dich, dass du „unvorhergesehene Ereignisse" ansprichst, aber mir nicht einmal sagst, worum es sich dabei handelt...»

«Alles zu seiner Zeit», sprach Kha'Zix ruhig. Seine Ruhe war in Teilen nur vorgespielt, das konnte selbst sie spüren. Irgendetwas bereitete ihm große Sorgen. Aber er würde es ihr eh nicht verraten. Ob es mit dieser Stimme zu tun hatte, mit der sie vor einer Woche gesprochen hatte? «Zuerst habe ich eine Frage an dich: Warum haben wir dieses Mädchen gerettet?»

«Du meinst Heidrun? Ganz ehrlich: Ich weiß es nicht. Die meisten würden sagen: „Weil es das Richtige ist", aber richtig und falsch haben du und Donner mir immer nur als subjektiven Mumpitz vermittelt. Alles was zählt, ist was uns weiterbringt»
, antwortete Morgade ehrlich.

«Tatsächlich ist die Antwort etwas komplizierter, so viel ist richtig.» Kha'Zix wagte ein leises Lachen. «Wir werden uns nicht als Bewahrer von Gerechtigkeit aufspielen. Du bist Kopfgeldjägerin. Das umfasst auch mal schmutzige Aufträge. Aber dieser Auftrag hier war wichtig, um Frieden zu bringen.»

«Frieden?»
Morgade war verwirrt. Sie setzte sich auf den Stuhl. «Was soll uns das bringen?»

«Vergiss nicht, warum wir dich ausgebildet haben», warnte der Leerengeborene. «Unser großes Ziel ist immer noch, alle Artefakte der Leerengeborenen zu sammeln und sie zum Leerenriss zu bringen, von dem Donner dir erzählt hat.»

«Der, den meine Vorgängerin entdeckt hat»
, erinnerte sich die junge Jägerin.

«Korrekt. Um unsere Ziele zu erreichen, ist uns Leerengeborenen alles recht. Und der einfachste Weg ist direkter Konflikt. Streits, Kämpfe und Kriege. Wir jedoch werden gezielt Frieden stiften.»

«Aber wenn Leerengeborene den Konflikt suchen, welchen Zweck hat es dann, sich am Frieden zu versuchen.»

«Denke wie eine Jägerin, Kleine. Wenn du an deine Beute willst-»

«Dann entferne alle Störfaktoren»
, vervollständigte sie, wusste aber noch immer nicht so recht, worauf er hinauswollte.

«Richtig. Schaffen wir Frieden, können wir leichter erkennen, wo neue Konflikte aus welchen Gründen aufflammen. Und wenn das passiert-»

«Können wir herausfinden, ob ein Leerengeborener dahinter steckt»
, realisierte sie. «Frieden ist es, wie wir die Beute von Störfaktoren isolieren.»

«Sehr gut. Frieden ist nichts als ein Werkzeug. Es ist wichtig, dass du dich stets daran erinnerst. Und jetzt hör zu, denn es gibt noch so viel mehr zu lernen...»

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Bevor die Frage kommt, falls jemand an der falschen Stelle zu wenig aufgepasst hat: Maeri heißt jetzt erst einmal Morgade.

Warum? Ich kann sie ja schlecht die ganze Zeit „Rote Walküre", „Kopfgeldjägerin" oder „Jägerin" nennen. Und auch andere Charaktere würden sicherlich gerne einen Namen für Personen haben, mit denen sie umgehen müssen.

Warum Morgade? Hab ein paar dänische Wörter gegoogelt und dann einfach zwei zusammengehauen. Zack, da kam Morgade als Kurzform für die Worte „Mutter Rätsel" raus. Der Rätsel-Teil ist offensichtlich. Und Mutter, weil sie sich instinktiv um andere Leute sorgt. Aber sagt es ihr, und sie wird es abstreiten :p

So, wieder ein längenmäßiges Monsterkapitel. Und das nach „nur" zwei Monaten.

Can we keep it up?
No we f*cking can't!

Verlasst euch nicht drauf, dass der nächste Upload früher kommt :D

So, und Kai'Sa ist aufgetaucht, die vor etlichen Kapiteln mal kurz namentlich erwähnt wurde.

Also mindestens einer meiner Leser kann sich, glaube ich, einigermaßen einen Reim drauf machen, worauf das hier im Endeffekt hinauslaufen wird ^^

Gut, ich verkriech mich dann mal wieder in der nächstbesten Senke.

Oder im Bett. Es ist gerade 4:32.
F*ck me.

Viel Spaß beim Warten :PPP

LG Haldinaste ;)

Die Riddari-GeschwisterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt