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Emily kam erst zwei Stunden später wieder zu Bewusstsein. Julia konnte kaum in Worte fassen, welche Ängste sie in diesen Stunden durchlebte. Der Zustand des Mädchens war kritisch, die erneute Kopfverletzung hätte tödlich enden können. Unbeschreibliche Erleichterung flutete Julias Geist, als sie erfuhr, dass das Mädchen wieder ansprechbar war.

Als die Eltern allerdings ankamen, musste Dr. Frank sie enttäuschen. Emily war nicht in der Verfassung, neue Menschen kennenzulernen. Erst recht nicht ihre Eltern, von denen sie bisher – abgesehen von einem Foto – gar nichts wusste und der Vater womöglich große Ängste in ihr wecken würde. Für eine solche Begegnung war das Mädchen einfach zu labil.

Diese Nachricht traf die Eltern verständlicherweise hart. Elf Jahre lang hatten sie auf die Wiederkehr ihrer Tochter gewartet. Elf Jahre des Bangens, ob ihr kleines Mädchen noch lebte oder nicht. Vermutlich würde sich der letzte Tag, bis sie ihre Tochter morgen endlich sehen durften, noch einmal ähnlich lange anfühlen wie diese vielen Jahre. Sie waren Emily nun so nahe und doch durften sie sie nicht sehen. Es musste Folter sein.

Dr. Frank klärte die Eltern außerdem genau über Emilys geistigen Zustand auf. Über die Tatsache, dass sie elf Jahre lang manipuliert und konditioniert worden war. Darüber, dass sie vor allen Menschen Angst zu haben schien. Über ihr selbstverletzendes Verhalten und die Erwartung einer Strafe hinter jeder unbedachten Bewegung. Und auch darüber, dass ihr Entführer sich als ihr Vater ausgegeben hatte.

Julia konnte beobachten, wie die Farbe aus den Gesichtern der Eltern wich. Es war kaum vorstellbar, was in ihren Köpfen vorgehen musste, was sie fühlen mussten, nachdem sie all diese schrecklichen Dinge über ihre kleine Tochter erfahren hatten. Ein Seelsorger stand ihnen nun zur Seite, bis sie Emily morgen würden sehen können.

Emily.

Julia und Dr. Frank hatten nach dem letzten Vorfall zu Mitteln greifen müssen, zu denen sie eigentlich nie hatten greifen wollen. Aber die einzige Alternative wäre es gewesen, Emily dauerhaft unter Beobachtung zu stellen oder sie zu fixieren, wann immer sie alleine war. Und letzteres war ganz klar ausgeschlossen! Emily würde vermutlich in Panik ausbrechen, wenn man sie fixieren würde. Also hatten Julia und Dr. Frank den einzigen anderen Weg gewählt, der gewährleisten konnte, dass Emily sich nicht noch einmal verletzte: Sie hatten eine neue Regel für sie aufgestellt.

Julia hatte noch immer ein schlechtes Gewissen, dass sie dazu genötigt gewesen waren. Sie hatten Emily verboten, sich noch einmal zu verletzen. Denn ein Verbot – das hatte das Mädchen anhand der Panikattacke heute Morgen an der Tür eindrücklich bewiesen – schien das Einzige zu sein, was Emily mit hundert prozentiger Sicherheit von irgendetwas abhalten konnte. Gegen ein Verbot würde sie niemals verstoßen, denn jeder Verstoß wurde ihrer Erfahrung nach hart bestraft.

Es tat Julia in der Seele weh, dass sie die Konditionierung, die Emily in ihrer Gefangenschaft erlebt hatte, nun selbst nutzten. Doch sie rief sich immer wieder in Erinnerung, dass es zu Emilys Bestem war. Sie mussten verhindern, dass sie noch mehr Schaden anrichtete.

Eigentlich wusste Julia auch, dass es keinen Grund gab, sich schlecht zu fühlen. Denn so schrecklich sie selbst es fand, dass sie die Methoden des Entführers angewandt hatten, so sehr schienen sie Emily damit geholfen zu haben. Julia erinnerte sich ganz genau an jenen Moment, in dem Emily ansprechbar gewesen war und Dr. Frank und Julia bei ihr gewesen waren. Sie hatten zuvor genau besprochen, wie sie vorgehen wollten. Unter keinen Umständen sollte es zu einem Widerspruch zwischen den Regeln des Entführers und ihrer neuen Regel kommen. Also hatte Julia – so schwer ihr das auch gefallen war – Emily zunächst dafür gelobt, wie toll sie das alles gemacht hatte. Sie hatten ihr zeigen wollen, dass sie bisher alles richtig gemacht hatte, dass es kein Fehler ihrerseits gewesen war, sich an die Regel ihres Entführers zu halten und sich selbst zu bestrafen. Und es schien funktioniert zu haben. Der ängstliche Blick des Mädchens war bei dem Lob einen Moment aufgeweicht und ein wenig der Anspannung war aus Emilys Körper gewichen.

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