Aussichtslos

13 4 7
                                    

Torina war gerade beim Aufräumen, als es an der Tür klingelte. Der Blick durch die Fensterscheibe neben der Tür zeigte eine ihr wohlbekannte Gestalt. Der Gerichtsvollzieher stand wartend davor. Kurz ging ihr durch den Kopf einfach nicht aufzumachen.  In den letzten Monaten war er fast regelmäßig erschienen. Bisher schien er ihr ein durchaus netter und freundlicher Mensch zu sein, der Verständnis für ihre angespannte Lage aufbrachte und um passende Lösungen bemüht war.

Gerichtsvollzieher hatten in dieser Stadt eine Sonderstellung. Man wählte sie gezielt nach ihren Fähigkeiten aus, menschliche Empfindungen zu spüren. Nach langjährigem Training konnte sich ihnen keiner entziehen. Sie wussten, ob ein Klient im Haus war oder nicht. Für die Herrscherfamilie waren sie wertvolle Mitglieder der Gesellschaft, die ihnen Macht und Reichtum sicherten. Meist entstammten sie Familien, die bereits langjährig einen B- Level oder sogar A-Level in der Hierarchie aufwiesen. Lorix von Einhell war da keine Ausnahme. Schon lange vor der Gründung Moralias, welches demnächst sein hundertstes Gründungsjubiläum begehen würde, leitete seine Familie die Geschicke Einhells, einer kleinen Stadt in der Nähe der Grenze zu den Freien Landen. Er konnte Torinas Zögern spüren und straffte sich. Was er ihr heute zu sagen hatte, war unangenehm, aber nötig.

Da Torinas Mann Valterian vor seinem plötzlichen Tod vor 2 Monaten das Begleichen von Schulden nicht zu den Prioritäten gezählt hatte, waren die offenen Rechnungen auf astronomische Höhen angewachsen. So war sie dankbar für jede Lösung, die sie gemeinsam finden konnten. Mit diesem Gedanken und dem Wissen, dass er ihre Anwesenheit spüren konnte, öffnete sie die Tür.

Sofort bemerkte sie, dass von Einhell, anders als sonst, einen kalten, schmalen Blick aus seinem, heute raubtierhaft wirkenden, Gesicht auf sie richtete. Er wirkte hager, größer als sonst und mächtiger, was Torina unbewusst zurückzucken ließ.

"Guten Morgen, Torina. Ich bin es mal wieder. Hatte ich nicht gesagt, du solltest nicht in den gleichen Fehler wie dein Mann verfallen? Ich bin es gewohnt, dass man meinen Ratschlägen folgt", begann er, sich an ihr vorbei ins Haus drängend, seinen Vortrag.

"Was ist es heute?", entschlüpfte Torina die Frage, bevor sie den genervten Unterton ausschalten konnte.

"Nun, wie du weißt", dozierte er kalt, "hat dein Mann dieses Haus mit einem Privatkredit gekauft. Es gehört faktisch der Hohen Frau Eliana. Diese hat nun befunden, dass es ein schönes Haus für ihre neue Bedienstete sei und fordert dich deshalb auf, den Kredit innerhalb von 2 Wochen abzuzahlen oder auszuziehen."

Während Torina Halt an der nächsten Stuhllehne suchte, redete sich Lorix im Inneren gut zu. Er tat das Richtige. Das musste er sich immer wieder vor Augen führen. Tatsächlich konnte er das Leid in den Augen von Torina kaum ertragen. Als er ein Funkeln in ihren Augen aufsteigen sah, wurde ihm klar, dass er noch zulegen musste, bis sie nachgeben würde.

Plötzlich war die junge Frau froh, dass sie und Valterian keine Kinder haben durften. Die Welt um sie herum schien in kleine Puzzlestücke zu zerfallen, ganz langsam, so dass man jedes einzelne Teilchen dabei beobachten konnte, wie es sich löste und zu Boden fiel. Als D-Level war man ein Spielball all der anderen Gruppen, nichts wert und unfähig, in andere Gruppen jemals wieder aufzusteigen. Dennoch würde sie den Kampf nicht so leicht aufgeben. Bisher hatten sie noch immer eine machbare Lösung gefunden, warum sollte das heute nicht möglich sein?

Tief atmete sie durch und beschloss einen Versuch zu unternehmen.

"Wie soll ich das denn schaffen? Sie wissen doch, was ich als Reinigungskraft verdiene, damit kann ich diese Riesensumme nie in 2 Wochen aufbringen. Und wo soll ich dann hin?" Ein feines, schmallippiges Grinsen erschien auf Lorix' Gesicht.

"Nun, du wirst wohl einsehen, dass die Hohe Frau Eliana weder das eine noch das andere interessiert. Vielleicht solltest du anfangen zu packen. Möglicherweise ist im roten Viertel noch eine Wohnung frei." Er drehte sich um und verließ grußlos das Haus. Keinen Moment länger konnte er dieses Schauspiel ertragen. Fassungslos sackte Torina auf einem Sessel zusammen, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war. Eine Flut von Tränen ergoss sich über ihr Gesicht und das Möbelstück. So war sie also endgültig ganz unten angekommen.

Im roten Viertel wohnten die, die als Abschaum der Gesellschaft bezeichnet wurden. Die Nutzlosen, das waren chronisch Kranke, Alte ohne Familie und eben hoffnungslos verschuldete Menschen. Nur solche wurden in dieses Viertel abgeschoben. Die Wohnungen waren umsonst und die Häuser sahen entsprechend aus. Aber jedes Jahr ließen sich einige der A- und B-Level in diesem Viertel sehen, um zu zeigen, wie mildtätig sie waren, indem sie diese Nutzlosen nicht einfach von der Welt entfernen ließen, sondern ihnen einen freien Platz zum Dahinvegetieren, Entschuldigung, Leben boten, der von ihren Spendengeldern finanziert wurde.

Von den Menschen des Viertels wurde dann regelmäßig Dankbarkeit erwartet, die man, wenn sie nicht als ausreichend betrachtet wurde, notfalls in die Menschen hineinprügelte. In den Nachrichten sah man dann die schönen Bilder. Blumen für die eine Lady, eine selbst gemalte Karte für die andere. Strahlendes Lächeln für die Kameras wurde von beiden Seiten erwartet. Dabei wirkte das Lächeln in mehrerer Hinsicht zahnlos.

Alle hatten schon als kleine Kinder gelernt, dass man in dieses Viertel nicht freiwillig geht, mit niemandem redet, der dort wohnt und schon gar nicht mit jemandem von dort befreundet sein kann. Die Aussicht, ins rote Viertel zu müssen, erschien Torina unwirklich, ja regelrecht unmöglich. Sie war Tochter einer B-Level Familie. Es konnte nicht sein, dass jemand innerhalb von 24 Jahren so tief sank. So langsam kam ihr in den Sinn, dass ihr Mann wohl doch das bessere Los gezogen hatte.

Gedankenversunken starrte sie auf ein Bild, dass ihnen ein Freund zum ersten Hochzeitstag geschenkt hatte. Dahinter klemmte noch die getrocknete rote Rose, die Valterian in der Hand gehalten hatte, als er um Torinas anhielt. Eine Rose war bei ihnen ein Vermögen wert. Sie waren Importware aus einem Nachbarland und deshalb eigentlich nur für ganz hohe Herrschaften zugänglich. Immer wieder hatte sie sich gewundert, wie er es nur geschafft hatte einen solchen Schatz zu besorgen.

Ihr Blick fiel auf die Standuhr im Regal. Es war fast Mittag geworden. Sie würde unbedingt ihre Grübeleien auf später verschieben müssen. Obwohl sie sich nicht sicher war, Ruhe finden zu können, beschloss Torina ins Bett zu gehen und zu ruhen. Nachts würde sie wieder durch die Paläste der Stadt, ihre Restaurants und Büros ziehen müssen, um die Spuren des Alltags wegzuputzen. Der Schlaf wollte zunächst nicht so recht kommen und so reifte in ihrem überreizten Hirn eine verrückte Idee, bevor Müdigkeit und Verzweiflung endlich die Oberhand gewannen.

Die hereinbrechende Dunkelheit ließ Torina wach werden. Der gewöhnliche Rhythmus hatte sie wieder. Als wäre nichts geschehen, stand sie auf und begann ihren normalen Arbeitstag. Es half sowieso nichts, eine Wohnung konnte sie nur bei Tag suchen und zu diesem Zeitpunkt alles hinzuwerfen, machte irgendwie keinen Sinn. Die verrückte Idee, die ihr vor dem Einschlafen gekommen war, spukte zwar noch in ihrem Kopf herum, wurde aber von alltäglichen Dingen, wie Arbeitskleidung anziehen, essen und pünktlich am geforderten Ort erscheinen, überlagert.

Ihr erstes Ziel war immer das Bürohaus der Hohen Frau Eliana. Torina hatte nur drei Stunden Zeit, um alle vier Etagen der Angestellten aufs Peinlichste zu reinigen. Das glich zeitweise einer unmöglichen Herausforderung, wenn man die Papiermüllberge, Schredderschnipsel und Geschirrstapel betrachtete, die an einem Tag so zusammenkamen.

Mit dem Eintreten der Dunkelheit leerten sich die Straßen und Gassen der Hauptstadt schnell. Bis auf die Reinigungskräfte und Nachtwächter, deren Tag gerade erst begann, versuchten alle Einwohner im Dunkeln nicht mehr vor die Tür zu gehen. Torina hingegen hatte sich noch nie vor der Dunkelheit gefürchtet. Sie genoss die Ruhe und die frische Abendluft auf ihrem Weg.

Gegenwind - Torinas AbenteuerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt