Beim Betreten des Bürohauses durch die Hintertür winkte sie der Nachtwächter zu sich.
"Ich habe eine Nachricht für dich, Torina."
Brian reichte ihr einen Zettel durch sein Fenster und blickte sie neugierig an.
"Schlechte Neuigkeiten?"
"Nein, Brian. Danke der Nachfrage. Ich soll heute nur in der obersten Etage auch noch putzen. Nora fällt aus. Das macht alles noch etwas stressiger."
Höflichkeit und Hilfsbereitschaft, so hatte man sie gelehrt, zahle sich aus. Das war das Ergebnis. Nora hatte sich einfach frei genommen und Torina ihre Arbeit auch noch aufgehalst. Schuld war sie aber selbst, hatte sie es ihr doch vor einiger Zeit mal angeboten, für Notfälle. Eine Verabredung schien ihr jedoch kein Notfall zu sein, eher eine Ausrede sie nicht sehen zu müssen. Hatte es sich schon herumgesprochen, welches Schicksal ihr drohte? Wundern würde es Torina nicht. Andererseits, in der obersten Etage waren die Büros der Hohen Frau selbst und ihres Sicherheitsdienstes. Eigentlich kam dort nur hinein, wer besonderes Vertrauen der Gesellschaft genoss, maximal also ein C-Level, wie Nora. Torina wusste nicht mehr, woran sie war.
"Können sie mir dann bitte zuerst die oberste Etage öffnen, Brian, ich habe dort eigentlich keinen Zugang."
Der Wachmann grummelte. "Dann muss ich ja die ganze Zeit oben um dich herum sein. Gleich beginnt aber meine Lieblingsserie. Nimm einfach meine Karte. Wird schon keiner merken."
Er winkte ab, reichte Torina seine Schlüsselkarte und wandte sich wieder dem Screen an seiner linken Seite zu.
"Ach und spätestens in einer Stunde muss ich die Karte zurückhaben. Dann beginnt meine Runde!", rief er ihr noch hinterher.
Torina hastete derweil schon zur Treppe, gab durch ein Handheben zu erkennen, dass sie ihn verstanden hatte und joggte in den 5. Stock hoch. Wenn sie wenigstens den Fahrstuhl nutzen dürfte, dies jedoch war den Reinigungskräften untersagt. Als sie oben angekommen war, pustete sie heftig. Warum musste sie noch einmal so schnell machen? Nora würde etwas zu hören bekommen, das schwor sie sich. Es musste also alles noch schneller gehen als sonst.
Die Schlüsselkarte öffnete ihr die Tür zu einem Glaspalast. Hier oben war alles erschreckend sauber, zumindest im Vergleich mit den unteren Etagen. Zuerst die Küche, Wasser in die Spüle lassen und das Geschirr einweichen, dann mit dem Staubsauger durch die Büros und abschließend den Wedel nutzen, um jedes Stäubchen zu entfernen. Als Letztes wurde dann gespült, abgetrocknet und das Geschirr in den Regalen platziert. Den Müll nahm sie immer am Schluss mit hinaus. So hatte sie sich die Reihenfolge seit Monaten angewöhnt und so würde sie es auch hier machen. Nur das in dieser Etage einiges anders war.
Überrascht stellte Torina fest, dass es hier eine Maschine für das Geschirr gab und Roboter für das Staubsaugen. Kurz fragte sie sich, was Nora in der Stunde hier oben wohl immer trieb, bis ihr einfiel, dass sie sicher besagte Maschinen beaufsichtigen, korrigieren und programmieren musste. Torina rief sich zur Ordnung. Für solche Gedanken durfte gerade kein Platz sein.
Kurz kamen ihr Zweifel, ob sie mit den Maschinen klar käme, dann aber schien alles so einfach und selbsterklärend zu sein, dass sie binnen einiger Minuten alles vorbereitet hatte. Das Geschirr in der Maschine einzubauen hatte ihr sogar Spaß gemacht. Man musste etwas überlegen, um den Platz so zu nutzen, dass alle Tassen, Teller und Gläser hineingingen. Die Laufzeit machte ihr noch Sorgen. Wenn die Maschine wirklich zwei Stunden spülte, würde sie sie nicht mehr ausräumen und das Geschirr wegstellen können. Nur der Fakt, dass Nora dies auch nicht in der einen Stunde schaffen konnte, beruhigte sie sofort.
Während die Spülmaschine mit beruhigend gleichmäßigem Ton lief und der Saugroboter ordentlich zu arbeiten schien, beschloss sie, ihre Runde durch die Büros zu machen. Hier etwas Staub von den Akten putzen, dort den Schreibtisch von Getränkeflecken befreien, Glastische polieren und den Müll einsammeln. Putzen war früher nie ihre Leidenschaft gewesen. In den letzten Monaten, seit sie ihr Geld damit verdienen musste, hatte Torina feststellen müssen, dass es ihr Freude bereitete, wenn die Orte, die sie verschmutzt auffand, strahlten und blitzten vor Sauberkeit.
Zuletzt kam sie in das Büro des Sicherheitschefs. Auf seinem Tisch lag eine aufgeschlagene Akte und ihre Neugier trieb sie dazu zu lesen. Was dort stand, schockierte Torina zutiefst und spülte ihre verrückte Idee vom Mittag wieder an die Oberfläche. Da stand klar und deutlich der Name ihres Mannes, der als Führer einer aufständischen Bewegung bezeichnet wurde und sich scheinbar in einem Gebiet versteckte, dass für seine Unzugänglichkeit und Gefährlichkeit berühmt und berüchtigt zugleich war. Eine Karte verzeichnete den vermutlichen Lagerplatz der Aufständischen, der unweit der Grenze auf der Seite der Freien Landen lag.
In Torinas Kopf summte es wie in einem Bienenhaus. Sie hatte doch aber Valterians Bestattung beigewohnt? War das alles nur eine Täuschung gewesen? Warum nur? Warum hatte er sie allein gelassen? Fürchtete er etwa, sie hätte ihn verraten? Tausende Fragen bombardierten ihr armes Hirn und hinderten sie an der Weiterarbeit. Doch die Uhr tickte und der Wachmann brauchte die Karte rechtzeitig zurück. Energisch schüttelte sie alle absurden Gedanken ab, griff sich einen Zettel, notierte sich das Wichtigste und sorgte anschließend dafür, dass ihr Papierdiebstahl unbemerkt bleiben würde. Es sei denn..., nein, keiner zählte die Notizzettel auf seinem Schreibtisch.
Lautes Piepen schreckte Torina auf und signalisierte ihr, dass der Staubsauger seine Arbeit beendet hatte und ihrer Zuwendung bedurfte. Sie verstaute ihn an seinem Platz, warf einen letzten Blick in alle Räume und ignorierte einfach die immer noch arbeitende Spülmaschine. Torina war zufrieden, wenn auch der Zettel in ihrer Tasche brannte und ihre Gedanken bei allem waren, nur nicht ihrer Arbeit. Als sie die Etage gerade verlassen wollte, kam ihr schon Brian entgegen, um nach seiner Schlüsselkarte zu sehen. Mit einem zufriedenen Brummen nahm er sie entgegen und Torina konnte nahtlos ihre Arbeiten in den anderen Stockwerken fortsetzen. Die Routine hatte bald ihre Gedankenflut in den Griff bekommen, so dass sie alle Handgriffe wie gewohnt abspulen konnte.
In Rekordtempo brachte sie dann auch ihre übrigen Arbeiten in dieser Nacht zum Abschluss, hetzte von dem Bürohaus zu einem ihr zugeteilten Restaurant, in dem sie vor allem die Küche zu reinigen hatte. Im Kopf spukte jetzt die mittags gefasste Idee immer konkreter herum, entwickelte ein Eigenleben und drängte nach Verwirklichung.
Am letzten Arbeitsort endlich, einem Büro eines angesehenen Firmeninhabers, hinterließ sie noch ein Kündigungsschreiben auf seinem Schreibtisch, im Vertrauen darauf, dass es hier in Montaray morgens binnen Sekunden schon an die korrekte Stelle weitergeleitet werden würde. Ordnung muss sein, dachte sie noch, selbst, wenn sie dazu schon wieder ein Verbrechen begehen musste. Eine Putzfrau benutzte natürlich nicht die Computer und Drucker in den Büros ihrer Arbeitgeber. Darauf standen harte Strafen. Aber bei dem, was sie vorhatte, würde es darauf wohl sicher nicht mehr ankommen. Andererseits war der Besitzer des Gerätes wohl selbst schuld, wenn er den Rechner nicht ordnungsgemäß herunterfuhr und mit einem Passwort schützte. Nichtsdestotrotz nagte es unaufhörlich in ihrem Gewissen. Man schmiss seine Arbeit nicht einfach hin. Nicht hier.
Von klein auf hatten ihr ihre Eltern beigebracht, dass sie die gestellten Aufgaben vollständig und ohne Widerspruch zu erfüllen hatte. Man hatte eben seinen Platz in dieser Gesellschaft, der, so ihre Mutter, von der eigenen Leistungsfähigkeit und Abstammung abhing. Jeder musste seinen Beitrag leisten und ein Müllsammler konnte eben nicht mit einer Lehrerin verheiratet sein. Als Kind war Torina das völlig klar und logisch erschienen. Selbst vor wenigen Stunden hätte sie noch genau das Gleiche gesagt. In diesem Moment aber, nach allem, was heute geschehen war, schrie es in ihr nach Widerspruch, Flucht und Unverständnis. Sie hatte nur noch einen Gedanken: schnell nach Hause und den verrückten Plan umsetzen, der irgendwie plötzlich sehr machbar erschien.
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Gegenwind - Torinas Abenteuer
FantasyAls Spielball von Intrigen plötzlich allein, muss Torina ihren eigenen Weg finden. Auf der Flucht zu ihrem angeblich toten Ehemann und zu der Gruppe Aufständischer, die er anführt, braucht sie Hilfe. Als auch der scheinbar letzte Halt wegbricht, le...