Kapitel 26

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AZRIEL

Ich öffnete die oberste Schublade meines Waffenschranks. Das Holz ächzte, als ich fester daran zog und im hinteren Bereich eine kleine versteckte Nische auftauchte. Ich zog den Dolch heraus, den mit den blauen Saphiren rechts und links am Griff. Sie hatten dieselbe Farbe wie meine Trichtersteine; speziell angefertigt als Geschenk von Rhysands Mutter. Sie hatte Cassian denselben geschenkt, bloß hatte er Rubine. Und Rhys hatte einen mit Amethysten bekommen, so violett wie seine Augen. Neben meinem Wahrsager war dieser Dolch mein wertvollster Besitz. Ich benutzte ihn nicht - Zum Teil, weil er einen sentimentalen Wert hatte, zum anderen weil er für das Schlachtfeld eher ungeeignet war. Als wird Kinder waren, hatten diese Dolche ihren Zweck erfüllt, doch jetzt als ausgewachsene illyrianische Krieger waren sie nicht länger praktisch.

Ich schloss die Schublade und drehte mich mit dem Dolch in der Hand um. »Hier, nimm ihn«, sagte ich und hielt ihn Melany hin. Sie sah von mir zu dem Dolch in meiner Hand. Ihre Hände verschränkte sie verängstigt vor ihrem Körper und schüttelte den Kopf.

»Nein«, sagte sie leise und ging einen Schritt zurück. »Ich benutze keine so großen Waffen.«

Ich musste schmunzeln. Wo ich gerade noch dachte, der Dolch wäre zu klein für mich, fand Melany, er sei zu groß für sie.

»Ich habe gesehen, dass du Messer bei dir trägst. Also nimm diesen.«

»Sie sind kleiner. Ich kann mit ihnen umgehen«, sagte sie und sah wieder zu mir auf. Sie deutete mit einem Kopfnicken auf den Dolch in meiner Hand. »Aber ich kann nicht mit Dolchen umgehen.«

»Ich hoffe, dass du das auch nicht musst.« Ich trat einen Schritt auf sie zu und hielt die Hand etwas höher. »Ich will nur, dass du ihn für alle Fälle bei dir trägst.«

Sie zögerte. Ihre Augenbrauen waren zusammengezogen und die Lippen aufeinander gepresst. Doch dann griff sie danach und streifte dabei mit ihren Fingern über meine Handfläche. Mich durchfuhr eine Gänsehaut, was sie zu bemerken schien. Ihre Augen funkelten als sie zu mir aufschaute. »Danke«, sagte sie leise und umfasste fest den Dolch.

»Nicht der Rede wert.« Rhysands Mutter hätte gewollt, dass wir unsere Seelengefährtinnen beschützten. Sie hatte uns immer erzählt, wie schön so eine Verbindung sein konnte. Dass wir als Kinder dabei nicht ahnten, wie sehr sie unter ihrer eigenen litt, war nur allzu verständlich. Doch sie hatte uns gegenüber nie etwas vermerken lassen. Stattdessen redete sie mit uns über Liebe und Frauen, wie als wären sie die schönsten Gesprächsthemen der Welt. Als ich Melany traf, erkannte ich die Wahrheit in ihren Worten.

Wir beide schwiegen. Das taten wir schon die ganze Zeit, seit ich ihr vor einigen Stunden meine Liebe gestanden hatte. Doch ich wollte nicht, dass ausgerechnet jetzt so viel Distanz zwischen uns trat. Nicht, bevor sie sich für eine unbestimmte Zeit vom Nachthof und auch von mir trennen würde. Ich wollte noch immer nicht, dass sie ging. Aber ich wusste auch, dass meine Worte nichts bewirkten; nichts bewirken würden.

»Immerhin passen die Saphire zu deinem Kleid«, sagte ich bloß um etwas gesagt zu haben. Ich wollte ihre Stimme hören. Ich grinste als sie leise lachte.

»Oh ja, das ist es, worauf es bei der Wahl seiner Waffen ankommt«, sagte sie und wippte mit den Hüften, sodass die Röcke ihres mitternachtblauen Kleides raschelten. »Mode.«

Ich lachte bei ihrer Bemerkung. »Na was denkst du wohl, wieso ich immer so gut aussehe?«

»So bescheiden wie eh und je.« Melany verdrehte grinsend die Augen und umfasste den Dolch noch fester. Ihr Blick ging zu der Waffe in ihrer Hand und ihr Lächeln wurde etwas träger. »Immerhin werden sie mich immerzu an deine Trichtersteine erinnern. Und an dich.«

Der Ruf des SchattensängersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt