40 | Scherben der Erinnerung - Part II

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Starr blinzle ich in die Schwärze meiner Zuflucht. Hier drinnen bin ich nicht alleine. Bei dem Geruch regt sich eine Erinnerung, aber es braucht einen Moment, bis ich die Empfindung zuordnen kann. Nur einmal im Leben habe ich es gerochen und doch nie vergessen.
Gelbe Augen, schimmernder Pelz und scharfe Krallen blitzen in meinem Kopf auf. Ein Berglöwe. Nur eine von vielen monströsen Kreaturen, die unsere Arena terrorisiert hat. Aus seinem aufgerissenen Maul roch es genauso, als er sich auf mich und Aramis stürzte, um uns zu verschlingen.

Am liebsten würde ich aus dem Raum fliehen, wären da nicht die Männer, die nun genau vor der Tür zu stehen scheinen. Ich höre das Knarzen ihrer Schuhsohlen auf dem blanken Boden und dann, zu meiner Überraschung, eine helle, weibliche Stimme.
„Das ist der Letzte auf unserer Liste. Sein Sie bloß vorsichtig mit dem Käfig, nicht, dass er noch entwischt. Dann reißt Dr. Gaul uns allen den Kopf ab!"
Ein Quietschen ertönt. Vermutlich bewegen sie den Rollwagen.

Den Atem angehalten verharre ich im Dunkeln, während die Männer draußen darüber diskutieren, wer den Kasten anpackt. Anscheinend haben sie Angst, vor dem, was darin ist. Genauso wie ich mich fürchte, herauszufinden, in wessen Behausung ich gelandet bin.
Zaghaft lösen sich erste Schemen aus der Dunkelheit, als meine Augen sich an die Schwärze gewöhnen. Es scheint ein riesiger Raum zu sein, zumindest verliert er sich in den Schatten. Neben mir erkenne ich einen großen Käfig, nicht aus Glas, sondern aus metallenen Gitterstäben, von der Decke bis zum Boden. Für einen Berglöwen ist er zu klein.

Leises Flügelraschen erschreckt mich fast zu Tode. Ich presse mir die Hand auf den Mund, um das Keuchen zu ersticken.
Nur eine Armlänge entfernt von mir sitzt ein dunkler Vogel hinter dem Gitter und starrt mich an. In dem kalten Luftstrom, der von irgendwoher durch den Raum weht, fröstle ich. Es ist albern, aber ich lege einen Finger an die Lippen, in der Hoffnung das Tier stumm zu halten.

Der Vogel legt den gefiederten Kopf schief und hüpft näher an die Gitterstäbe heran. Er kommt mir vage bekannt vor, obwohl ich nicht glaube, dass er in Distrikt vier heimisch ist. Interessiert mustert er mich aus glänzenden Augen und breitet dann raschelnd seine Flügel aus, schwarz mit hellen Spitzen.
Ich kann nicht verhindern, dass er seinen Schnabel öffnet. Statt eines Krächzens oder Zwitscherns aber dringen Worte aus seiner Kehle. Menschliche Worte.
Ich behalte euch im Auge! Ich behalte euch im Auge!

Wie versteinert stehe ich da. Weitere Vögel hüpfen aus dem Dunkel und greifen den Schrei auf, wiederholen ihn in ihren eigenen Stimmen, die kein bisschen nach Vogelzwitschern klingen.
Den Krach können die Leute draußen unmöglich überhören. Gleich werden sie hereinplatzen und nachsehen, was vor sich geht! Mein Herz droht aus der Brust zu hüpfen. Ich sehe mich nach einer Zuflucht um.

„Diese verdammten Biester! Immer nur am rumschreien. Ich verstehe echt nicht, was Gaul an den Viechern findet. Am liebsten würd ich denen den Hals umdrehen, aber sie findet es auch noch witzig, denen solche Sprüche beizubringen."
Das ist wieder die herrische Frauenstimme.
„Haltet den Schnabel", brüllt sie laut. Offensichtlich haben die Schreie sie kein bisschen überrascht.

Die Vögel hören jedoch nicht auf sie, sondern übersteigern sich gegenseitig in einem unheimlichen Konzert aus immer demselben Satz. Ich behalte euch im Auge!
Von diesen Tieren habe ich nur in den Schulbüchern gelesen. Schnattertölpel. Die misslungene Züchtung des Kapitols, die zur größten Waffe der Rebellen in den dunklen Tagen wurde. Kein anderes Lebewesen ahmt die menschliche Stimme derart getreu nach.

„Lasst uns sehen, dass wir fertig werden", keift die Frau draußen, „je eher, desto besser. Und seid vorsichtig! Wenn Puffin euch beißt, bin ich nicht schuld."
Einer der Männer brummt etwas und sie setzen sich endlich in Bewegung. Ich höre wie sich ihre Schritte entfernen, ebenso wie das Quietschen des Rollwagens.

Meeressturm | Annie CrestaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt