1. Ein unbegabtes Mädchen

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Oak Forest.
Wenn ein Dorf 'Eichenwald' heißt, sollte man wirklich nicht zuviel erwarten.
Es gab Bäume; Eichen um genau zu sein, Schafe, eine Schule, einen Arzt, noch mehr Schafe und ein Einfamilienhaus mit Backsteinfasade, in welchem die Familie Adrecen lebte.

Einfach perfekt und so schön -
„Scheiße!"
Fluchend trat Cygnus Adrecen in das Haus.
„Was denn?", fragte seine Frau Sheratan neugierig, schob ihre Brille den Nasenrücken hinauf und trat aus dem Wohnzimmer in den Flur.
„Der Marder, der uns vermutlich die Zündkabel durchgebissen hat, war nun der Meinung das er auch noch unseren kleinen Vorgarten als Scheißhaus benutzten kann."
Sheratan strich ihre braunblonden Haare zurück und sah leicht verzweifelt auf seine Schuhe.

Es war Silvester.
Es ging jedes Jahr etwas schief.

Unbehelligt vom Marder, saßen die zwei Töchter in ihren Zimmern im Obergeschoss.
Mira war Zwölf, hatte braunblonde Haare und die blaugrünen Augen ihres Vaters. Sie war die Jüngere und lag auf ihrem Bett, während sie Musik hörte.
Chara dagegen hatte ihr Buch, welches sie für die Schule lesen mussten, weggelegt und sah lieber aus dem Fenster.
Sie hatte einen sehr guten Blick auf die Nebenstraße, den Vorgarten und auf die Nachbarhäuser. Es regnete leicht auch wenn gemeldet war, es solle Punkt Mitternacht aufhören.
Die Autos standen in den Einfahrten, auf den kurz geschnitten Rasen in den Vorgärten lagen noch vereinzelte Blätter und der Nachbar auf der anderen Straßenseite schaffte seinen Müll raus. Es war alles wie immer und es passierte nichts unvorhergesehenes.
Sie ließ ihren Blick noch einmal kurz schweifen, über die Elster, welche auf dem Dach eines anderen Nachbarn saß, hin zum Wald, hinter den Häuserreihen. Über Diesem stieg etwas Nebel auf.
Chara riß sich von diesem Anblick los. Ihr wäre Schnee lieber gewesen.

Sie schlurfte zu ihrer Schwester und fragte ob sie Lust habe Karten zuspielen.
Da Mira fast immer gewann, sagte sie natürlich nicht nein.
Am Ende saßen sie sogar zu Viert im Wohnzimmer und spielten, während im Fernsehen ein Spielfilm nach dem anderen kam.
Es war gemütlich, warm und später wollten auch noch die Großeltern vorbei kommen.
Chara und Mira sollten deswegen bereits einige Zeit vorher in ihre Zimmer gehen und ihre Rucksäcke packen.
Am Neujahrstag fuhren sie immer zu Sheratans Mutter Phoebe und trafen dort auch gleich noch Onkel Hamal und seinen Sohn Jack.
So war es Tradition das neue Jahr und Jacks Geburtstag bei Oma Phoebe zu feiern. Anschließend übernachteten sie immer gleich in einer kleinen Pension, da der Weg doch recht weit war.
Genau so lief fast jedes Silvester und Neujahrsfest bei der Familie ab.
Fast Jedes.

* * *

Es klingelte an der Haustür und Chara war sich sicher, dass es sich um ihre Großeltern Alphecca und Alphard handelte, schließlich war es etwa 22:00 Uhr.
Sie war jetzt Vierzehn, hatte schulterlange braunrote Haare, blaugrüne Augen, trug eine Brille und hatte nur sehr wenig Lust ihre Sachen ordentlich in den Rucksack zustopfen. Also trat sie, nur mit dicken Socken an den Füßen, in den Flur der ersten Etage und lief auf die Treppe zu, welche in den Flur des Erdgeschosses führte.
Sie hörte eine Männerstimme, welche definitiv nicht zu ihrem Opa gehörte.

„Du kannst sie auch gleich mit ins Wohnzimmer holen. Mir egal."
Die Stimme kam Chara bekannt vor, auch wenn sie diese nicht einordnen konnte.
„Gut, dann geh ich gleich mal."
Chara wich einen Schritt zurück und schon tauchte ihr Vater auf der Treppe auf.
„Hey. Kommst du mit ins Wohnzimmer. Wir haben Besuch."
Ihr Vater machte ein ungewöhnlich ernstes Gesicht. Die eckige Brille saß wie immer gerade auf der Nase, aber das ganz leichte, allgegenwärtige Lächeln war verschwunden.

Sie lief ihm nach und sah erst im Wohnzimmer den Fremden.
Auf der linken Seite war die Fensterfront welche auf die Straße hinaus zeigte und das Sofa, dem gegenüber war die Schrankwand und der Fernseher.
Es sah fast alles so aus wie immer, nur mit dem bedeutenden Unterschied das da ein großer Mann stand, fast 1,90m.
Er hatte etwas längere schwarzbraune Haare, braune Augen und trug einen grünen Pullover, Jeans und einen schwarzen, fast bodenlangen Kutschermantel.
Sein Gesicht war glatt rasiert, während die drei parallel liegenden Narben auf seinem linken Oberarm unter dem Pullover steckten. In seinem Gesicht fielen die hohen Wangenknochen und das kantige Kinn auf. Durch den Ausdruck in seinen Augen konnte man erkennen, dass es sich um einen Kämpfer handelte.
Der Fremde musterte Charas Gesicht, so als versuchte er darin etwas zu finden.
Sie nahm im Sessel platz, während die Eltern und der Fremde es sich auf dem Sofa gemütlich machten, jedoch hatte er zuvor den Mantel ausgezogen, zusammengeschlagen und über die Armlehne gelegt.
„Du erkennst mich nicht wieder, oder?"
Er hatte eine dunkle, raue Stimme.
Chara zog eine Augenbrauen hoch.
„Doch doch. Du bist mit meinen Eltern befreundet und du warst vor einigen Jahren mal zubesuch. Allerdings fällt mir dein Vorname gerade nicht ein. Schlimm?", fragte sie unsicher.
Der Fremde zuckte mit den Schultern.
„Nicht Schlimm.
Ich bin Arco Nehcard."
Chara erinnerte sich ganz dumpf und fing an leicht zu nicken.
„Bist du nicht das letzte Mal auch an Silvester gekommen?"
Arco nickte.
„Hör zu Chara.
Als erstes: Mir tut es wirklich leid, dass ich in den letzten vier Jahren nicht aufgetaucht bin.
Zweitens: Kannst du dich noch an diese kleinen Zaubertricks von mir erinnern?"
„Mehr schlecht als recht", nuschelte sie.
Arco streckte die Hand aus und aus dem Wasserglas auf dem Couchtisch flog eine kleine Wasserkugel, welche sich um ihre eigene Achse drehte.
Chara starrte die Kugel an und konnte es sich nicht erklären.
„Mhm. Daran kann ich mich noch erinnern. Hast du nicht auch mal das Sofa zum schweben gebracht?"
Arco nickte und er fing sogar an zu lächeln, was zu seinem sonst so ernsten Gesicht gar nicht zupassen schien.
„Das sind wirklich extrem gute Tricks."
Arco musste sich am Kopf kratzen, aufgrund ihres letzten Wortes.
„Und wenn es kein Trick, sondern echte Magie wäre?", fragte Arco und zog am Ende seiner Frage die Stirn in Falten.
„Echte Magie? Ich bin nicht mehr Fünf", sagte sie etwas verzweifelt, da sie es nicht war haben wollte. Ihr war klar, dass es nicht wirklich logisch begründbar schien.

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