Laut krachend fällt die Tür hinter mir ins Schloss. Gedanklich entschuldige ich mich bei meinen Nachbarn, die ich damit jetzt eventuell geweckt habe und laufe die Treppen runter. Unten angekommen sehe ich, dass die Haustür wieder sperrangelweit aufsteht. Die Nachbarn wollen aber auch, dass jemand bei ihnen einbricht, oder? Mein Vater beschwert sich jedes Mal darüber. Mir solls egal sein. Das Sicherheitsschloss an unserer Tür wird schon seinen Zweck erfüllen und wenn nicht, dann kümmert sich die Versicherung schon darum. Bei uns gibt's eh nichts zu holen. Trotzdem schließe ich die Haustür sorgsam hinter mir, während ich das Haus verlasse. Nur dieses Mal leise. Ich muss ja nicht jeden einzelnen Hausbewohner aus seinen Träumen reißen.
Angeekelt steige ich über eine am Boden liegende Asia-Box, deren Inhalt sich über den ganzen Bürgersteig verteilt. Wenige Zentimeter daneben liegt eine Plastikgabel, die wohl mal weiß war. Sofort muss ich an Yogi Berras Zitat denken. When you come to a fork in the road, take it! Wäre ich nicht sowieso schon zu spät dran, würde ich das auch tun. Aber ich habe gerade einfach keine Zeit, um einen Mülleimer für eine Plastikgabel und eine Pappbox zu suchen. Das wird schon jemand anderes erledigen. Jemand, der Zeit dafür hat. Felix würde sich vermutlich einfach die Zeit dafür nehmen. Egal, ob er dann den Bus verpasst und zu spät kommt oder nicht. Bei dem Gedanken an meinen besten Freund, zu dem ich gerade unterwegs bin, muss ich lächeln. Wir haben uns jetzt viel zu lange nicht mehr gesehen, auch wenn es nicht mal ein ganzer Tag war. Allein schon bei dem Gedanken daran, gleich wieder vor ihm zu stehen, schlägt mein Herz drei Takte schneller. Ich glaube, mich hats ziemlich heftig erwischt. Mein Lächeln zerfällt und ich schüttle den Kopf, um die Gedanken loszuwerden. Unerwiderte Liebe ist verdammt großer Bullshit.
Während des Gehens checke ich die Uhrzeit. Ich bin gerade so pünktlich, ich kann die Bushaltestelle schon sehen! Und trotzdem fange ich an zu laufen, sobald ich das Motorengeräusch des Buses hinter mir höre. Gute Entscheidung, denn nur wenige Augenblicke danach zieht der Bus an mir vorbei und hält an der Haltestelle. Ich setze zu einem kurzen Sprint an und springe fast schon in den Bus. Keine Sekunde zu früh, denn die Türen schließen sich schon hinter mir. Mein angestrengtes Atmen unterdrückend setze ich mich auf einen freien Platz. Zum Glück ist der Bus so gut wie leer. Dann hört und sieht wenigstens niemand, wie ich versuche, nicht zu sterben. Verfluchte Unsportlichkeit. Felix würde mich jetzt auslachen. Er mit seiner dämlichen Ausdauer. Vielleicht sollte ich das auch mal trainieren.
Ich ziehe meine Kopfhörer aus meiner Jackentasche und stöpsle sie ein. Sofort drücke ich auf die nächstbeste Playlist und bereue es sofort. Die hat Felix erstellt. Warum hat eigentlich alles in meinem Leben mit ihm zu tun? Von all den Menschen, in die ich mich hätte verlieben können, muss es ausgerechnet mein bester Freund sein. Mein Leben will mich aber auch verarschen. Und trotzdem lasse ich die Playlist laufen, denn der Song gerade ist absolut geil. Wie alles andere auch ist selbst sein Musikgeschmack perfekt. Der Junge machts einem aber auch schwer, ihn nicht zu mögen. Frustriert seufze ich.
Als ich den Bus wieder verlasse, muss ich kurz meine Augen zusammenkneifen. Die Sonne blendet einfach viel zu stark. Dann laufe ich los, folge dem Verlauf der Straße. Je näher ich Felix' Haus komme, desto größer wird meine Aufregung. Solange, bis ich das Gefühl habe, fast kotzen zu müssen. In meinem Kopf wiederholen sich die krassesten Szenarien und ich kann sie nicht abschalten. Obwohl ich weiß, dass nichts davon passieren wird. Wir werden für die Biologie Klausur lernen, die wir Montag schreiben und chillen danach einfach 'n bisschen. Nichts besonderes. Dinge, die beste Freunde eben so tun. Denn das sind wir. Freunde. Mehr nicht. Reiß dich zusammen, man!
Vor seinem Haus angekommen atme ich ein letztes Mal tief ein und drücke dann auf die Klingel. Beinah sofort höre ich das mechanische Brummen, dass mir zeigt, dass ich rein kann. Hat er mich etwa erwartet? Bullshit. Natürlich hat er das. Wir sind verabredet. Zum lernen. Von mir selbst genervt schüttle ich den Kopf und betrete dann den Hausflur, laufe die Stufen hoch in den zweiten Stock. Felix steht in der Wohnungstür, den Blick auf die Treppen gerichtet, ein Lächeln auf dem Gesicht, als er mich sieht. Ich erwidere sein Lächeln, sehe dabei vermutlich absolut dümmlich aus und rede mir ein, mich zusammen reißen zu können. Immerhin muss ich das.
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Nee-chans Shots
Short StoryEine Sammlung von Oneshots, geschrieben in mehr oder weniger klaren Momenten meinerseits. Wann immer mich die Motivation packt, etwas zu schreiben, was keine lange Story wird, wird es hier landen. Vermutlich werden hier sowohl OC-Oneshots, als auch...