Ich starre nervös auf das dunkle Holz vor mir, den beinahe schwarzen Knoten, die anmutig geschwungenen Muster und Strukturen. Die Luft ist kühler als sonst, weswegen ich fröstelnd die Arme um meinen Körper schlinge. Wie jedes Mal fällt mir auf, dass der Auswuchs einem abstrakten Auge ähnelt, vielleicht auch einem kleinen Herz. Neugierig geworden drehe ich den Kopf ein wenig und betrachte ihn fasziniert. Doch ich habe keine Zeit, ich muss das jetzt hinter mich bringen. Ich habe schon genug getrödelt, Zeit geschindet, es herausgeschoben. Mein Herz flattert in meiner Brust wie ein eingesperrter Vogel, als ich meine Bluse zurechtzupfe und mich innerlich wappne.
»Ich schaffe das«, versuche ich mir einzureden und zwinge mich dazu, meinen Blick von dem Knubbel abzuwenden. Er lenkt mich nur ab.
Wie jedes Mal ignoriere ich das 'Nicht stören'-Schild, das in etwa auf Augenhöhe hängt. Wie jedes Mal tut mir der stechend gelbe Hintergrund in den Augen weh. Wie immer stelle ich fest, dass das Holz um die Türklinke ein bisschen heller ist als der Rest.
Doch es ist nichts wie immer.
Bei dem Gedanken, was mich hinter der Tür erwartet, bildet sich ein eiskalter Klumpen in meinem Magen und ich fühle mich wie nach einer turbulenten Achterbahnfahrt.
Jeden Tag stehe ich vor der Tür, doch jetzt wirkt sie fremd, beinahe bedrohlich. Meine Hände zittern und fühlen sich unter meinen Fingern heiß und klebrig an. Plötzlich schwappt Panik über mich hinweg und spült den winzigen Haufen Mut hinweg, der sich eben gebildet hatte.
Nein, ich schaffe das nicht. Ich habe mich noch nie dazu überwinden können. Vielleicht sollte ich einfach noch etwas warten, vielleicht liege ich schließlich vollkommen falsch.
Am Liebsten würde ich umdrehen und verschwinden, in meine Gedanken flüchten und die Netze abschütteln, die sich um meinen Hals schnüren.
Zumindest fühlt es sich so an, als ich die Klinke hinunterdrücke.
Ich befinde mich in einem kleinen, beinahe winzigen Zimmer, allerdings ist es ganz und gar nicht der Ort, den ich erwartet habe. Die langweilige weiße Tapete ist beklebt mit einzelnen Schwarzweißpostern von Figuren aus Serien, Musikern und einzelnen, wenigen Filmplakaten. Das Licht, das durch die Fensterfront hereindringt, wird von blütenweißen Vorhängen gedämpft und nimmt einen milchigen Glanz an. Neben einem schmalen, weißen Regal, das mit Spielzeug und Kinderbüchern vollgestopft ist, steht ein noch kleinerer, ebenso heller Schreibtisch. Das junge Mädchen, das davor sitzt, hat sich konzentriert über ein einzelnes, blankes Blatt Papier gebeugt. Das leise, scharrende Kratzen bestätigt, dass sie etwas schreibt. Mir fällt auf, dass ihre Locken das einzige wirklich Bunte im Raum sind. Sie umwallen ihren Kopf wie flüssiges Feuer und bilden einen starken Kontrast zu ihrer bleichen Haut.
Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, dass das die elfjährige Version von mir ist. Wie in Trance starre ich auf ihren Hinterkopf, auf dem sich die Locken zu einer Art Strudel kräuseln, lausche dem leisen Kratzen von Stift auf Papier und dem Verkehrslärm, der durch das zu einem Spalt geöffnete Fenster hereindringt.
Ich werde durch eine Bewegung im Augenwinkel aus meinen Gedanken gerissen. Das Mädchen hat sich zurückgelehnt und betrachtet nun den fertigen Brief, auf der noch nasse, königsblaue Tinte glänzt. Ich kann sogar aus dieser Entfernung meine krakelige Schrift erkennen, die unsauber geschriebenen Buchstaben, die wirken, als wären sie aus Platzmangel aneinandergedrängt worden, und die große, geschwungene Unterschrift am Ende des ziemlich kurzen Textes. Es ist das einzige Wort, das in einer anderen Farbe geschrieben ist als der Rest, weswegen mein Blick daran haften bleibt.
Ich erstarre und wiederhole das Wort aus blutroter Tinte erneut, um mir zu vergewissern, dass ich mich nicht verlesen habe.
Luca.
Mein Name. Ich vermute, dass es das erste Mal ist, dass ich ihn überhaupt verwendet habe. Seit Jahren trage ich ihn im Geheimen mit mir herum, außer mir kennt ihn niemand. Aber außer mir weiß auch niemand, dass ich transident bin.
Der Gedankenfaden reißt, als das Mädchen sich vom Schreibtisch abwendet und ihr Blick einen schmerzerfüllten Ausdruck annimmt.
Und dann kommt die Stelle in meinem Gedächtnis, die ich vielleicht am meisten bereue. Vielleicht hätte ich damals den Mut gehabt, den Brief meinen Eltern zu geben. Vielleicht würde ich dann jetzt, vier Jahre später, nicht voller Schuldgefühle hieran zurückdenken. Vielleicht müsste ich mich dann nicht mehr verstecken.
Doch ich kann nichts tun, um mich davon abzuhalten, was ich gehofft hatte, für immer aus meinem Gedächtnis ausblenden zu können.
Und so schaue ich einfach nur dabei zu, wie das Mädchen vor mir den Brief zerknüllt, ihn in tausend Schnipsel zerreißt und diese im stahlgrauen Mülleimer unter dem Schreibtisch versenkt, wobei der elfenbeinfarbene Splitter in ihrer Iris kurz aufblitzt.
Plötzlich scheint die Raumtemperatur um mehrere Grad zu sinken und ich fühle mich bis auf die Schuldgefühle, die durch meinen Kopf kriechen, völlig leer. Es ist ein seltsames Gefühl, ich kann es nicht einmal genau beschreiben.
Dann wendet das Mädchen sich aufgelöst um und starrt in meine Richtung, durch mich hindurch, auf das Fenster. Im Licht glitzernde Tränenperlen laufen ihr über das ebenmäßige Gesicht, das ich so hasse. Jeder Blick in den Spiegel ist ein Blick in einen Gesicht, das nicht zu mir gehört.
Es ist perfekt, makellos - das Gesicht eines Mädchens. Ich bin weder perfekt noch ein Mädchen.
In den dunkelbraunen, beinahe schwarz glänzenden Augen des Mädchens flackert eine Mischung aus Angst und Schmerz auf, die nur Sekundenbruchteile später in Trauer versinkt. Es tut weh, mich so zu sehen, auch wenn ich mit diesem Kapitel meiner Kindheit längst abgeschlossen haben sollte. Vielleicht ist wirklich der einzige Weg, meinen Erinnerungen zu entfliehen, über meinen eigenen Schatten zu springen.
Dann macht das Mädchen einen Schritt mach vorne, direkt auf das Fenster zu. Kurz zögert sie, ihr Gesicht gleicht einer steinernen Maske, ohne jegliche Gefühlsregungen. Die Tränen sind versiegt, dagegen kann ich spüren, wie sie innerlich ertrinkt. Schließlich dringt sie sich jedoch trotzdem zu einem weiteren Schritt durch.
Ich weiß, was jetzt kommt. Und ich habe verdammt Angst davor.
Als mein jüngeres Selbst einen weiteren, unsicheren Schritt nach vorne macht, trete ich entschlossen vor und greife nach ihrer Hand. Als sich unsere Hände berühren verschwimmt jedoch alles um mich herum und ich stehe wieder vor der dunklen Holztür.
Dieses Mal ist die Luft wärmer und das Licht blass orangerot wie ein Sonnenuntergang im Winter. Dieses Mal wirkt das Schild viel hübscher, dieses Mal ist die Nervosität wie weggeblasen.
Mit Mut, den ich von mir gar nicht kenne, öffne ich vorsichtig die Tür und schlüpfe durch den Spalt. Vielleicht musste ich mich wirklich nur dazu durchdringen, diesen Schritt zu gehen.
»Mama, ich muss mit dir reden«, beginne ich nervös.

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Regenbogengedanken
Короткий рассказ[Diese Geschichte wurde im Rahmen des LGBTQ+ Schreibwettbewerbs von WattpadYoungAdultDE anlässig des Pride Month 2021 geschrieben und hat dort den 3. Platz erreicht] © ashesoftruths Alle Rechte vorbehalten Die Bilder stammen von Pinterest ...