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Emily musste einen grausamen Albtraum gehabt haben. Verzweifelt hatte sie sich in ihrem Bett gewunden, hatte gewimmert und immer wieder geschrien. Es tat Julia in der Seele weh, sich vorzustellen, welche Qualen Emily in ihrem Traum womöglich durchlebt hatte.

Jetzt lag sie stocksteif und nassgeschwitzt in ihrem Bett und starrte gebannt auf ihren Vater. Die Angst in ihren Augen war nicht zu übersehen. Ein wenig plagte Julia das schlechte Gewissen, dass sie die Kleine dieser Situation aussetzte. Natürlich hatte sie Angst vor ihrem Vater. Julia, Dr. Frank und die Eltern hatten sich ausführlich darüber unterhalten. Es hatte ganz den Anschein, als würde Emily ihren Entführer, der sich als ihr Vater ausgegeben hatte, nun mit ihrem leiblichen Vater ersetzen. Alles, was ihr Entführer getan und von ihr verlangt hatte, erwartete sie nun auch von Herrn Neumann.

Deshalb war dieses Gespräch so unheimlich wichtig. Einerseits, um Emily die Angst vor ihrem leiblichen Vater zu nehmen und andererseits in der Hoffnung, dass sie ihm Glauben schenken würde, wenn er ihr erklärte, dass es hier keine Regeln gab, an die sie sich halten musste.

„Hast du dich ein wenig erholt?", fragte Julia nach einer Weile. Zitternd hatte Emily das Glas Wasser getrunken, das Julia ihr gegeben hatte. Seither starrte sie wieder wie gebannt zu ihrem Vater.

Nervös wanderte Emilys Blick nun zu Julia, ehe sie langsam nickte. Wären Nervosität und Angst eine tödliche Krankheit, wäre dieses Mädchen heute bereits viele Tode gestorben. Julia hoffte so sehr, dass dieses Gespräch ihr helfen konnte. Dass sie endlich die grausamen Gedanken aus Emilys Kopf verbannen und ihr zeigen konnten, dass sie nichts zu befürchten hatte.

„Das freut mich. Dann können wir uns ja ein bisschen unterhalten. Und wie gesagt: Du musst keine Angst haben. Dir wird nichts passieren."

~

Ich glaubte ihr kein Wort, so sehr ich es auch glauben wollte. Aber Vater war hier und ich wusste, dass er mich bestrafen würde. Ich war ungehorsam gewesen, hatte versagt. Und Versagen wurde bestraft.

„Okay, mein Schatz, dann... Wäre es in Ordnung für dich, wenn ich ein bisschen näher komme? Einfach, dass wir uns besser unterhalten können?"

Erneut stieg Panik in mir auf. Er wollte mir näher kommen. Das bedeutete, er wollte mich bestrafen. Ganz sicher! Aber ich durfte ihn nicht abweisen, also nickte ich, während meine Brust sich schmerzhaft zusammenzog.

Vater schien glücklich über meine gehorsame Antwort zu sein und nahm sich einen Stuhl, mit dem er meinem Bett beängstigend nahe kam. So nahe wie Julia. Julia hatte ich inzwischen gelernt, näher an mich heranzulassen, denn bisher hatte sie mir noch nicht wehgetan. Allerdings war mir sehr wohl bewusst, dass es jederzeit soweit sein konnte.

Als ich eine Bewegung von der anderen Seite hörte, zuckte ich erschrocken zusammen und mein Blick schnellte in die Richtung.

„Hey Emily. Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich bin nur hier, um euch alle zu unterstützen. Keine Sorge, du weißt, dass du von mir nichts zu befürchten hast."

Es war Dr. Frank. Sie musste schon hier gewesen sein, als ich geträumt hatte, denn seit ich wach war hatte niemand mein Zimmer betreten. Beunruhigt sah ich wieder zurück zu Vater, der sich inzwischen gesetzt hatte.

„Okay, Emily. Ich..." Vater zögerte. Was war los? Hatte ich irgendetwas falsch gemacht? Ich hatte mich doch nicht einmal bewegt. Oder holte er jetzt seine Peitsche?

Mit angstgeweiteten Augen sah ich ihn an und wartete auf das, was passieren würde.

„Oh Emily, das alles fällt mir so schrecklich schwer", meinte er und ich verstand nicht, wovon er redete. Was fiel ihm schwer? Mich nicht zu bestrafen? Oder es eben doch zu tun? Oder die vielen Leute, die andauernd hier waren? Wollte er lieber alleine mit mir sein? Was meinte er nur?

Lost GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt