Groß Geworden

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Seine Stimme hatte den ganzen Raum erfüllt. Damals, als sie ihm gerade noch bis zu den Schultern gegangen war, und das auch nur auf Zehenspitzen. Damals war er ihr noch so riesengroß erschienen und sie hatte sich gefragt, ob sie selber je so groß werden würde. Damals war sie immer zu ihm gekommen, sobald sie etwas bedrückt hatte und er hatte dann seine Arme um sie gelegt, sie ganz fest an sicher heran gedrückt und ihr Sachen ins Ohr geflüstert. „Alles ist gut“, hatte er gesagt, „aber hör jetzt auf traurig zu sein! Das steht dir nicht.“ Diese Worte hatten ihr immer ein Lächeln auf die Lippen gezaubert. Und dann, dann hatte er ihr dieses alte, wunderschöne Lied, an welches er sich noch aus seiner Kindheit erinnert hatte, vorgesungen. Seine Stimme hatte den ganzen Raum erfüllt und es hatte sich so angefühlt, als ob die ganze Welt für ein paar Minuten innehalten und lauschen würde. Damals hatte es kein Problem gegeben, das nicht mithilfe jener Umarmung, jener Worte und jenes Liedes gelöst werden konnte. Doch die Zeiten hatten sich geändert. Jetzt war sie einen Kopf größer als er. Schön und klug war sie. Jetzt ging sie schon in die achte Klasse des Gymnasiums, war eine tolle Tänzerin, spielte schwierige Klavierstücke, spielte anspruchsvolle Rollen im Theater, sang im Chor, und in ihrer Freizeit besuchte sie ihn, ihren Großvater. Die Jahre hatten ihn verändert. Er war kleiner geworden, buchstäblich kleiner. Sowie andere alten Leute, war auch er geschrumpft. Die Krankheiten, die er hatte überstehen müssen, hatten ihre Spuren hinterlassen und obwohl sein Stolz es ihn nie zugeben lassen würde, war allen klar, dass er viel schwächer geworden war. Zwar scherzte er noch immer und erzählte seine Geschichten, doch wurden diese mit jedem Mal kürzer. Es fiel ihm schwer lange zu reden, sowie es ihm schwerfiel zu lächeln. Dennoch gab es keinen einzigen Tag, an dem er sie nicht mit einem warmen Lächeln empfangen würde. Heute lächelte er auch, doch seine Augen, die sie liebevoll anschauten, spiegelten den ganzen Schmerz, der ihm widerfahren war, all die traurigen Gedanken wieder. Sorgen hatten sich auch in ihrem Kopf angesammelt, doch heute weinte sie nicht. Sie hatte gelernt Probleme zu lösen und den Kummer zu verbergen. Heute ging sie zu ihm, legte ihre Arme um ihn und drückte ihn ganz fest an sich heran. „Alles wird gut!“, flüsterte sie, „ Sei bitte nicht mehr traurig! Kummer steht dir nicht!“ Und dann begann sie das Lied zu singen. Ihre Stimme erfüllte den ganzen Raum.

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