Prolog: Der Bote

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Er ritt. Er ritt, als wäre Ukbum der Dreiäugige hinter ihm. Seit er vor wenigen Tagen den Vahá-Strom passiert hatte und die ersten Ausläufer des Kaiserwalds erreicht hatte, erfüllte ihn eine gewisse Unruhe. Was würde ihn zuhause erwarten? Vor sieben Jahren folgte er seinem König freiwillig in die Welt hinaus, doch sehnte er sich immer nach Frau und Kind in der Heimat. Jetzt war der Tag gekommen und er musste sich eingestehen, dass er Angst hatte. Er hatte Angst, in ein Zuhause zu kommen, das nicht mehr das seine war. Nach Hause zu einer Frau, die ihn vergessen hatte und Kindern, die zu Männern herangereift waren.
Missmutig trieb er seine Stute an und zwang sich wieder, sich auf den Weg zu konzentrieren, der vor ihm lag. Obwohl der Einsame Weg oft genutzt wurde, war er dennoch verwildert. Wurzeln sprossen aus der Erde und das Laub auf ihr machte den Boden heimtückisch. Dennoch ritt er so schnell, wie er sich traute. Im Kaiserwald war es stockfinster. Jegliches Mondlicht wurde von den Bäumen verschluckt und Nebel stieg zwischen den kahlen Stämmen um ihn herum auf. Katla stolperte und Brund fluchte. Beinahe wäre er aus dem Sattel gestürzt. Dabei wurde ihm nur wieder schmerzlich bewusst, welche Kosten dieser Ritt verursacht hatte. Die Blasen an den Fingern waren aufgeplatzt, die Schenkel waren wund und die Glieder steif. Lange würden sie den Ritt nicht mehr durchhalten können, ohne eine Pause zu machen. Sonst würden sie zugrunde gehen. Alleine, in diesem vermaledeiten Wald und keiner wusste von ihrem Kommen. Brund mahlte mit dem Kiefer. Das durfte nicht passieren. Nicht so kurz vor dem Ziel. Aber war er denn kurz vor dem Ziel? »Verdammter Wald«, knurrte er ärgerlich. Wenn er doch nur wenigstens etwas sehen könnte. Doch plötzlich blinkte vor ihm zwischen den Bäumen etwas auf. Konnte das sein? Oder bildete er sich nun schon Dinge ein? Er blinzelte einmal und noch einmal. Doch das blinkende Licht vor ihm war nach wie vor da und kam näher. Neuer Mut erfasste ihn. Er richtete sich im Sattel auf und trieb Katla zu einem wagemutigen Galopp an. Dort! Lichteten sich nicht bereits die Bäume? Waren das nicht Stimmen, die er vernahm? Er blieb stehen und lauschte angestrengt. Tatsächlich! »...und wir sitzen hier und schauen die ganze Nacht auf diesen dummen Wald!«, schimpfte gerade jemand. Noch war Brund gut versteckt hinter den Bäumen. »Sei still! Hast du das nicht gehört? Da war doch gerade Hufgetrappel zu hören!«,ein junger Wachmann deutete in den Wald. »Ha! Jetzt auch noch das! Du liegst mir schon den ganzen Abend mit Schauermärchen über Ungetüme und Irrlichter in den Ohren. Jetzt hörste schon Ukbum anreiten. Pass auf Junge, dass du nich' den Verstand verlierst. Wärst nich' der Erste«, höhnte ein älterer Mann, der gelassen an einem Tor lehnte. Brund atmete auf. Das war das Tor. Es hatte keinen wirklichen Namen und wenn doch, dann wurde er vergessen. Das Tor war so alt wie die Welt selbst und wurde wohl von den ersten Menschen erbaut. Es war nicht besonders groß, nur gerade so, dass ein einzelner Mann dort durchschreiten konnte. Doch es war der Eingang zu einer völlig neuen Welt. Es spannte sich zwischen zwei riesigen Bergen und führte in einen schmalen Pfad zwischen den Bergen hindurch. Nur so kam man von dieser Seite in das Tal des Otra, welches nach jenem göttlichen Wesen, das aus diesem Gebirge entstammte, benannt wurde. Langsam ritt er aus dem Schatten des Waldes auf die Wachmänner zu. Der Jüngere von ihnen wirbelte erschrocken herum, der ältere runzelte die Stirn und sah Brund entgegen. »Wer seid Ihr und was wollt Ihr hier?«, rief der Jüngere atemlos. Er baute sich vor ihm auf und wolllte bedrohlich wirken, aber Brund musste sich angesichts der dünnen Arme und dem blassen, sommersprossigen Gesicht ein Grinsen verkneifen. »Jörg hat Euch eine Frage gestellt«, blaffte der Ältere, als er nicht gleich antwortete. Doch Brund sah das amüsierte Blitzen in seinen Augen. Ein Blitzen, das ihm plötzlich sehr vertraut vorkam. Er betrachtete ihn genauer. Ja, jetzt erkannte er ihn. Sieben Jahre waren vergangen, aber in seinen Augen war noch immer der Geist des Knaben, mit dem er aufwuchs zu erkennen.
»Erkennst du einen Bruder nicht, wenn du ihn siehst, mein Freund?«, antwortete Brund und lächelte den Älteren an. Dieser schaute verwirrt zurück.
»Meine Brüder sind tot, die Seuche hat'se dahingerafft. Und jene, die ich als Brüder bezeichnen würde, sind verschollen in der Ferne. Vermutlich auch tot«, knurrte er. Der Junge namens Jörg schaute verdutzt zwischen den beiden Männern hin und her.
»Alt bist du geworden, Wolf, und scheinbar bin ich das auch«, lachte Brund, »Aber ich versichere dir, tot bin ich nicht.« Der Mann namens Wolf stierte ihn aus dunklen Augen an. Sie wurden von inzwischen grauen, dichten Brauen überschattet. Eine Weile sagte niemand ein Wort, dann richtete sich der Ältere langsam auf und kam auf Brund zu. »Zeig mir deinen Arm«, forderte Wolf ruhig. Brund grinste und schob den Ärmel seines Leinenhemds bis zu den Ellbogen. »Es sind viele Narben dazu gekommen, aber diese hier«, Wolf deutete auf eine gezackte Narbe über seinen Ellbogen, »diese stammt aus deinen besseren Zeiten. Ich sehe es noch vor mir, wie der Köter von Loreleis Alten dich anfiel.« Brund lachte. »Geheiratet habe ich sie trotzdem.« Dann stieg er vom Pferd.
Jörg schaute verdutzt auf die Männer, welche sich lachend umarmten. Eine Weile redeten sie über Belanglosigkeiten und Brund spürte, wie eine Last von ihm abfiel. »Und... wer seid Ihr nun?«, fragte der Junge plötzlich. Wolf und Brund wandten sich zu ihm um. Sie hatten ihn fast vergessen. »Ich bin Brund, einer der Fünfzig, die mit Gilden und Aquinas auszogen für Ruhm und Ehre«, antwortete er. Die Augen des Jünglings wurden groß. »Gilden? Der verbannte Prinz? Man sagt die Hälfte der Bastarde aus dem Kaiserreich wären seine Bälger.« Wolf lachte.
»Nur die Hälfte?«, spottete er und sah Brund an. Der jedoch blieb ernst. Schlagartig verstummte Wolfs Gelächter.
»Warum bist du hier? Wo ist der Prinz?«, fragte Wolf nach einer Weile leise in die Stille und beendete damit unangenehme Schweigen. Brund schüttelte den Kopf und seufzte. »Mein Freund, ich muss zum Kaiser. Es gibt Neuigkeiten von großer Wichtigkeit«, wich er aus. Er konnte und wollte die Nachricht niemand anderem anvertrauen. Nicht hier, nicht im Schatten der Bäume. Denn Schatten sind überall, dachte er und fühlte einen plötzlichen Drang weiterzureiten. Auch Jörg wandte sich immer wieder zu dem Wald und Katla scharrte unruhig neben ihm. Wolf spürte den plötzlichen Stimmungswandel und nickte. »Ich begleite dich den Einsamen Weg entlang bis zum Tal«, beschloss er. Brund nickte und zusammen schritten sie in den Schatten der Berge. Dorthin, wo die Schatten noch schwärzer wurden. Brund fühlte sich aus tausend Augen beobachtet, doch Wolf schritt gelassen neben ihm her und schwatzte vor sich hin. Wie es Lorelei ergangen war und sie zusammen mit den Kindern auf die Rückkehr ihres Geliebten warteten. Er selbst war nun auch verheiratet. Mit Loreleis Cousine Brinda. Brund wusste, dass Wolf es ihm zuliebe tat. Unter anderen Umständen hätte Brund ihm an den Lippen gehangen, doch jetzt hörte er nur mit halbem Ohr zu, während die Schwärze der Schatten sich vertiefte. Auch warme Worte konnten nicht die Schrecken des Erlebten vertreiben. Der Pfad war nicht lang, nur wenige hundert Meter, doch es kam Brund vor, als würde er auf der Stelle gehen. Gerade als er drohte, auf die Knie zu sinken und Quolorr und sein Elter Otra um mehr Zeit anzuflehen, durchschnitt ein Lichtstrahl die Dunkelheit. Der Mond kam hinter den Wolken hervor und die Schatten wichen. Brund atmete tief ein und aus. Er hatte unwillkürlich die Luft angehalten. »So da wären wir«, schloss Wolf seinen Monolog just in dem Moment, in dem die beiden Männer am Ende des Pfades aus dem Schatten der Berge traten. Sie blickten auf ein weitgestrecktes Tal. Katla neben ihm schnaubte. Sie schien sich an ihr Zuhause zu erinnern. Brund fasste Wolf am Unterarm. »Ich danke dir, Bruder«, seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.
»Da is' nichts zu danken. Reite weiter und tu, was du tun musst. Danach geh zu deiner Lorelei. Sie wartet!«, erwiderte er und hielt seinerseits seinen Unterarm fest. Brund nickte. Dann schaute er unbehaglich zu, wie Wolf im Schatten verschwand, um zu seinem Posten zurückzukehren. Er wollte ihn warnen, doch dann besann er sich. Es war nicht möglich, dass sie ihn bis hierher verfolgt hatten. Widerwillig aber entschlossen wandte sich Brund wieder um. Vor sich erstreckte sich ein gigantisches, längliches Tal, in welchem die Stadt Pedra lag. Tausende Lichter erleuchteten die engen Gassen und die großen Hauptstraßen trotz der fortgeschrittenen Stunde. Er atmete tief ein und schritt auf die Stadt zu, welche sich an die drei Riesen des Gebirges schmiegte. Er wollte nicht riskieren, dass die Dunkelheit nach ihm griff. Noch bevor er den steilen Gebirgspfad hinuntergestapft war schlugen ihm Gesang und Gelächter aus einer der Tavernen am Stadtrand entgegen. Brund lächelte. Hier waren die Menschen glücklich und unbeschwert. Er hoffte, dass er sich bald wieder zu ihnen gesellen konnte. Er stieg wieder in Katlas Sattel und trabte die eng gewundenen Gassen der Stadt entlang, bis er auf eine der Hauptstraßen stieß. Diese waren gerade und führten alle zum selben Ziel: der Palast. Es dauerte nicht lange, da sah Brund die altbekannten Gemäuer vor sich aufragen. Eindrucksvoll erhob sich der Palast über der Stadt. Er klopfte an eines der Tore.
»Wer da?«, fragte eine Wache und öffnete eine Luke im Tor.
»Brund, Sohn von Börn«, antwortete Brund, »Ich komme im Auftrag von Gilden, Sohn von Aranor, Prinz von Toa, und Aquinas, Sohn von Marino, Prinz von Achromós«. Das braune Augenpaar, welches sich im Halbschatten befand, weitete sich. Dann schloss sich die Luke. Er hörte einen Mann auf der anderen Seite Befehle brüllen. Sicher wurde ein Bote in den Palast geschickt und andere Torwachen angewiesen, das schwere eisenbeschlagene Eichentor zu öffnen. Langsam bewegten sich die schweren Flügel des Tors und Brund fand sich vor der gewaltigen Treppe wieder, welche hinauf zu dem Palast führten. Er seufzte. Er hatte diese Hürde schon immer gehasst und jetzt mehr als jemals zuvor. Dennoch hob er einen Fuß nach den anderen, bis er die unzähligen Stufen erklommen hatte. Dabei hatte er immer den Palast vor Augen, der kunstvoll aus dem Stein des Berges, an welchen er sich schmiegte, gemeißelt war. Vier Türme zierten ihn, wobei einer größer war als die anderen. Der ganze Palast stellte eine gewaltige Huldigung der vier wichtigsten Gottheiten dar: Otra und des Geschöpfes Kinder. Eindrucksvoll schimmerten die Türme im Mondlicht, wobei sie dennoch fast mit dem Berg hinter ihnen verschmolzen. Yódha war der größte Berg des Gebirges und galt als König der Berge. Er bregrenzte das Tal an der Nordseite und schnitt es damit von der nördlichen Küste ab. Brund kam nicht umhin, die Größe und Herrlichkeit des Palasts und dem Berg selbst zu bewundern. Trotz seiner Müdigkeit durchfuhr ihn ein Gefühl von Ehrfucht.
Oben angekommen fand er die Tore in den Thronsaal geöffnet vor. Wachen flankierten den Eingang, doch keiner von beiden sprach ihn an oder machte Anstalten, ihn aufzuhalten. Doch er sah das unverhohlene Staunen in ihren Augen, als er an ihnen vorbeiging. Seine Schritte hallten an den steinernen Wänden des Saals wieder und warmes Licht vertrieb die Schatten. In vier Kaminen brannte ein Feuer und Fackeln beleuchteten den Weg. In regelmäßigen Abständen waren zum Schutz der Bewohner Wachen postiert. Keiner von ihnen rührte sich, doch Brund bemerkte, wie sie ihn aus den Augenwinkeln beobachteten. Keiner sagte ein Wort, doch es schien, als würden sie ihm die Fragen entgegenschreien. Brund gegenüber an der Stirnseite des Saals befand sich ein Podest mit einem steinernen Thron, welcher direkt aus dem Boden gearbeitet war. Auf ihm saß, in all seiner Herrlichkeit Aranor, Kaiser von Toa. Er wirkte müde angesichts der späten Stunde, doch seine sturmgrauen Augen verfolgten wachsam jeden Schritt des Heimgekehrten. Neben ihm stand deutlich angespannter Enos, zweiter Prinz von Toa, und hatte eine Hand auf die Schulter des Kaisers gelegt. Brund kniete vor dem Steinthron auf die Erde.
Einen Moment lang herrschte Stille.
»Ihr sagtet, dass Ihr im Auftrag meines Sohnes kämet«, es war eine Feststellung, keine Frage. Tief hallte des Kaisers Stimme durch den Saal.
»Ja, Herr«, bestätigte Brund und hielt nach wie vor den Blick gesenkt.
»Dann erhebt Euch und berichtet von meinem Sohn«, befahl Aranor. Es war ein Ton, der es gewohnt war zu befehlen, dennoch hörte Brund die Güte und die Sorge eines Vaters in der Stimme des Mannes vor ihm.
Brund erhob sich und blickte dem Kaiser ins Gesicht. Trotz der sieben Jahre, die vergangen waren, schien er selbst nicht gealtert zu sein. Der Blick war klar, das Haar dicht und seine Hände konnten noch immer ein Schwert führen, dessen war sich Brund sicher. Es war nicht leicht, diesem Mann nicht zu folgen.
»Verzeiht«, fing Brund mit einem kurzen Blick auf die Wachen an, »doch die Schatten haben neuerdings Ohren und meine Botschaft ist nur für Euch allein bestimmt.« Stille.
Der Kaiser mahlte mit dem Kiefer. Doch dann siegte die Neugier.
»Enos bleibt. Der Rest«, er deutete auf die Wachen, »wartet vor dem Tor und verschließt es. Niemand soll uns stören!«
Hinter sich hörte Brund, wie schwere Stiefel über den Steinboden liefen. Dann verschloss sich das Tor und es war wieder still.
»Ich hoffe, damit ist der Geheimhaltung genüge getan«, fuhr der Kaiser fort. Brund nickte.
»Euer Sohn Gilden und auch Aquinas sind wohlauf. Sieben Jahre schicktet Ihr Sie zusammen mit fünfzig Freiwilligen, zu denen auch ich gehörte, in die Fremde, um für Ruhm und Ehre zu kämpfen. Wir haben unsere Aufgabe erfüllt und kehren nun heim. Wir alle sind der Abenteuer müde. Auch Euer Sohn hofft, dass Ihr ihn und seine Gemahlin in Euren Hallen willkommen heißt.«
»Natürlich«, brach es aus Enos hervor und auch der Kaiser nickte wohlwollend. Brund lächelte, als er die Freude in den Augen des Bruders und des Vaters sah. Eine Familie sollte sich wiedervereinen.
»Doch Ihr spracht davon, dass die Schatten Ohren haben?«, hakte der Kaiser nach. Trotz seiner offenkundigen Freude, war ihm dieses Detail nicht engangen. Aranor war ein scharfsinniger Mann.
»Die Welt ist im Wandel«, Brund zögerte. Wie viel konnte er offen sagen?
»Die Welt ist im Wandel und wir brauchen den Zusammenhalt der Völker und Königreiche mehr denn je. Vieles, was wir erlebt haben, hat uns stark gemacht und uns Frieden gebracht, doch vieles war auch von böser Natur. Es scheint, als hätte Ukbum sein drittes Auge auf uns Menschen gerichtet.« Mehr wagte er nicht.
Es herrschte Stille. »Was soll das heißen?«, herrschte Enos ihn an. Panik stand in seinen hellblauen Augen, Ungläubigkeit zeichnete seine Züge. Doch sein Vater hob die Hand und schüttelte den Kopf. Er verstand.
»Diesem Problem werden wir uns zuwenden, wenn Gilden und Aquinas heimgekehrt sind. Nun erfreuen wir uns der Nachricht, dass der verbannte Prinz nicht länger verbannt ist und wir ihn bald in unseren Hallen begrüßen dürfen. Euch, guter Mann, dürstet es nach dieser langen Reise sicherlich nach einer kräftigen Mahlzeit und Euer Bett.« Aranor klatschte in die Hände und eine Tür schwang auf. Dahinter stand der Kammerdiener des Kaisers.
»Geleitet Marren nach unten in die Küche. Er wird anordnen, dass Ihr versorgt werdet, bevor Ihr Euch auf den Weg macht.« Damit war die Audienz beim Kaiser beendet. Brund verneigte sich erneut und murmelte Worte des Danks, dann wandte er sich um und folgte dem Jungen tiefer in den Berg hinein.
Brund konnte nachher nicht sagen, wie viele Gänge sie entlanggeschritten, wie viele Treppen sie hinab gestiegen oder durch wie viele Türen sie gegangen sind. Doch irgendwann fand er sich auf einem Stuhl vor einem einfachen, langgezogenen Holztisch wieder, welcher in einer großen Küche stand, und wartete. Er hörte, wie eine Tür aufschwang. Schlurfend kam eine junge Küchenmagd in sein Blickfeld, welche sich noch die Augen rieb. Ihr strohblondes Haar war in aller Hast hochgebunden. Einzelne Strähnen standen ab. Mürrisch und gähnend machte sie sich daran ein Feuer zu schüren, um eine kräftige Brühe zu erhitzen. Brund rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum, ob der giftigen Blicke, die sie ihm dann und wann zuwarf.
»Wer bist'n du, dass der Kaiser mich mitten in der Nacht weckt, um dir Essen zu kochen?«, fragte sie schlecht gelaunt, als sie ihm die Schüssel mit Eintopf und warmes Brot vor die Nase stellte. Es roch köstlich und Brund lief das Wasser im Mund zusammen. Er hatte gar nicht gewusst, wie hungrig er war, doch jetzt konnte er den Hunger nicht mehr ignorieren.
»Brund«, antwortete er knapp zwischen zwei Bissen. Die Brühe verbrannte ihm die Zunge, so schnell schlang er sie hinunter.
»Und was macht dich so wichtig?«, genervt füllte sie ihm ein Krug mit verdünntem Wein.
»Ich bin einer der Fünfzig.«
»Welche Fünfzig?«, fragte sie und schaute ihn skeptisch an.
»Einer der Fünfzig von Gilden. Der Prinz kehrt heim.«
Das Mädchen sah ihn nur weiter verständnislos an. Brund erstarrte. Konnte das sein?
»Mädchen, wie alt bist du?«, fragte er.
»Beim elften Mond werde ich zwölf«, antwortete sie stolz.
»Aber von Prinz Gilden hast du sicher schon gehört? Man nennt ihn auch den verbannten Prinzen?«, fuhr Brund fort.
Das Mädchen schnaubte.
»Gehört schon, aber es heißt, der ist tot. Ich glaube, er hat nie existiert. Alles nur Geschwätz.« Sie machte sich daran, die Töpfe auszuschrubben. Brund jedoch konnte sie nur fassungslos anstarren. Sieben Jahre, schoss es Brund durch den Kopf. Das Mädchen war zu jung, um sich an die Taten ihres Prinzen zu erinnern. Sie war zu jung gewesen, um sich für sein Fortgang zu interessieren und die Jahre hatten ihn aus ihrem kindlichen Gedächtnis gelöscht. Für sie, war er nur eine Geschichte.
»Ich versichere dir, Mädchen«, fing Brund an , »Gilden und die Fünfzig sind wohlauf und kehren heim. Doch -«
»Emmi«, unterbrach sie ihn, »ich heiße Emmi. Nicht Mädchen!« Herausfordernd blickte sie ihn an. Ihre Augen schienen zu sagen »Trau dich, nenn' mich noch einmal Mädchen«.
Brund nickte und musste sich ein Schmunzeln verkneifen. Das Kind hatte für sein Alter sehr viel Charakter. Doch vielleicht musste sie das auch haben.
»Emmi«, fuhr er fort, »kennst du nicht die Geschichten von Gilden und Aquinas in der Fremde?«
Verunsichert sah Emmi ihn an. Brund spürte, wie ihre Überzeugung wich.
»Er lebt?«, fragte sie leise. Plötzlich war sie doch nur eine Elfjährige, die nichts von der Welt außerhalb des Tals wusste und doch so sehr nach Wissen lechzte.
Brund nickte und spürte, wie sich sein Herz für sie erwärmte.
»Dann ist das gar nicht gelogen?« Sie stellte die Frage leise, doch in ihren Augen war ein forschender Ausdruck getreten, der im Widerspruch zu ihren Worten stand.
Sie versucht rauszufinden, ob ich sie belüge, wurde es Brund klar, so viel Charakter. Er stellte die leere Schüssel hin und sah ihr fest in die Augen.
»Sicherlich ist einiges, was man sich erzählt gelogen«, räumte er ein, »doch vieles ist auch wahr.«
Emmi nestelte an ihrer Schürze rum. Sehnsüchtig blickte sie zu der Tür, die zweifelsohne in ihre Schlafkammer führte. Doch dann seufzte sie und zog einen Stuhl heran.
»Dann erzähl' du mir die Wahrheit und lass' nichts aus«, forderte sie. Brund überlegte. Sollte er wirklich? Er war müde und wollte heim. Doch die neugierigen, kindlichen Augen Emmis bohrten sich in seine. Unwillkürlich musste er grinsen.
Dann begann er zu erzählen.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Nov 24, 2021 ⏰

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