46 | Verlorene Stärke - Part II

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Die gespenstische Stille in der Trainingshalle wird nur von Annies erstickten Schluchzern durchbrochen. Ihre Tränen durchnässen Finnicks dünnes T-Shirt, aber das ist ihm egal. Er hält sie in den Armen, bis sich all ihr Leid den Weg nach draußen gebahnt hat.

Was das Kapitol ihr angetan hat, wird er nie vergeben. Nicht nur, dass sie eine Figur in ihren Hungerspielen war, nein, sie haben darüber hinaus nichts unversucht gelassen, sie zu der perfekten Siegerin zu formen, die sie gerne hätten – und dabei fast alles zerstört, was sie ausmacht.

Finnick erscheint es wie eine Ewigkeit, bis Annies Tränen endlich versiegen. Er sieht in ihre verquollenen roten Augen und verspricht ihr, wovon er schon seit Jahren träumt. „Ich werde einen Weg finden, das hier zu beenden. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Das Kapitol soll nie wieder Macht über uns haben."

Annies zarte Schultern versteifen sich. „Fin, was redest du da? Du klingst, als würdest du ... neue dunkle Tage meinen!" Sie mustert ihn unter zusammengezogenen Augenbrauen heraus erschrocken.
Kurzzeitig überlegt er, alles von Distrikt dreizehn, der Rebellion und den Anzeichen für einen Umbruch zu erzählen. Doch als er die Unruhe in ihren blau-grünen Augen sieht, sinken die Worte wieder seine Kehle hinab. Er kann es nicht. Das Wissen würde ihr nicht helfen, wenngleich es ihm schmerzt, sie zu belügen.

„Nein, das will ich nicht", sagt er leise. „Aber ich werde dafür kämpfen, dass sie dich ... in Ruhe lassen." Zumindest ein Körnchen Wahrheit steckt in seinen Worten.
„Fin, sei vorsichtig", entgegnet Annie, einen Schluckauf unterdrückend. „Bitte. Ich kann dich nicht verlieren. Nicht deswegen."
Unglücklich lächelt er. „Natürlich." Er drückt ihr einen Kuss auf den Scheitel.

Schniefend zieht Annie die Nase hoch. „Ich weiß, es ist albern – ich habe nur so egoistische Angst, alleine zu sein. Zusammen können wir doch alles überstehen. So wie jetzt. Dann wird alles besser." Sie wischt sich mit dem Ärmel ihrer Jacke über das tränennasse Gesicht. Als ihre Wangen wieder trocken sind, tritt ein neuer, trotzigerer Ausdruck in ihre Augen. Ein weiteres Mal nimmt sie ihre ganze Stärke zusammen und steht auf.

„Du hattest Recht. Ich fühle mich schon besser. Auch wenn ich diesen Ort lieber nie wieder sehen würde." Ihr Blick wandert zu den Speeren, die sich in die Mitte der Zielscheibe gebohrt haben. Sie streicht ihre langen Haare über die Schulter zurück. „Ich sollte zu Cece gehen und meinen Text für das letzte Interview üben. Wenigstens das kann ich tun. Edy und Cordelia einen würdigen Abschied geben."

Finnick sitzt immer noch am Boden und ringt mit sich, wie er Annie je in sein gefährliches Geheimnis einweihen kann, da beugt sie sich herab und gibt ihm einen kurzen Kuss. „Danke, Fin. Jetzt bist du an der Reihe, es rauszulassen."
Annie verschwindet raschen Schrittes aus der Trainingshalle, während er mit einem leeren Gefühl im Magen zurückbleibt. Früher oder später muss sie von Distrikt dreizehn erfahren. Doch wann wird der richtige Zeitpunkt sein?

Seufzend lässt er den Kopf in die Hände fallen. Die plötzliche Stille in der Halle senkt sich wie ein bleiernes Tuch über ihn. Er findet nicht einmal die Kraft aufzustehen und zu trainieren – bis das Klappern der Tür ihn aufschreckt.
Im fahlen Lichtschein steht Johanna und mustert ihn mit unergründlicher Miene. „Hier bist du also. Hätte ich mir ja denken können."

Sie kommt auf ihn zu geschlendert. Beiläufig schnappt sie sich eine Axt aus einer Halterung und wirbelt sie mühelos in ihrer Hand herum. Zufrieden grinst sie. „Ach ja, Beetee sucht dich. Ich glaub, er will sein Beileid aussprechen." Für einen Moment testet sie schweigend die Axt aus, ehe sie fortfährt. „Jedenfalls – mein Beileid für euren Verlust."

„Schon gut", winkt er müde ab. „Ich weiß, dass es euch noch viel schlimmer erwischt hat, gleich am Füllhorn. Wenn, dann müsste ich dir Beileid aussprechen."
Johanna schneidet eine Grimasse. „Wie ich vorhergesehen habe. Eure hatten ja wenigstens noch Hoffnung." Sie zuckt mit den Schultern. „Also, wie siehts aus, kämpfen wir?"

Meeressturm | Annie CrestaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt