1. Grandmas Schicksal

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Es war Abend. Genauer gesagt 18:00. Mein Blick streifte durch die Dunkelheit. Mit Gänsehaut ging ich die lange Straße hinab, zum Haus meiner Grandma Rosalie. Am liebsten wurde sie allerdings Rosie genannt. Ansonsten fühlte sie sich so alt. Eigentlich war sie das jedoch nicht. Granny war erst 71. Sie lebte in einer alten, großen Villa, die am Ende der Hillow-Road stand. Es war eine lange, geheimnisvolle Gasse, die mir sehr am Herzen lag. Eine Straße, in der nur alte, verlassene Villen standen. Dieser Ort passte einfach perfekt zu Grandma. Oma hatte nur wenige Nachbarn, da viele bereits verstorben waren, sie umgezogen sind oder das Haus nur als Wochenendhaus diente. Das Haus meiner Großmutter, war schon seit über 70 Jahren im Besitz meiner Familie, doch Granny lebte erst dort, seit sie sich von Grandpa getrennt hatte. Sie hatte sich in ihrer alten Wohnung nicht mehr wohl gefühlt, weil sie zu oft an Großvater Charles denken musste. Der Schmerz, dass sich die beiden nach 44 Jahren so sehr auseinander gelebt hatten und drei gesunde, glückliche Kinder bekommen hatten, musste ihr wohl immer noch sehr am Herzen liegen. Sie hatten sich früher sehr geliebt. Allerdings nur früher.

Das Haus in dem Granny nun lebte war früher ein Ferienhaus gewesen. Auch meine Mom war schon oft in dem Haus, das ich gleich betreten würde und hatte dort ihre Ferien verbracht. Sie erzählte mir genauso gerne Geschichten darüber wie meine Großmutter.

Weil ich und mein Verlobter James in der Bakerstreet lebten die nur fünf Minuten entfernt war, konnte ich Grandma fast täglich besuchen. Jedes Mal freute sich meine Oma, wenn ich zu ihr kam. Und ich freute mich ebenfalls. Man wusste schließlich nie, wie lange wir sie noch besuchen konnten. Sie war ein lebensfroher Mensch und genoss jeden Tag in ihrem Leben, obwohl sie ein schreckliches Schicksal erleben musste, wie ich heute erfahren würde. Doch vorher betrat ich ahnungslos den Garten und klingelte an der Tür. Wie immer hörte ich ein Stück aus Schwanensee, welches die Klingelmelodie war. Allein das liebte ich an Grandmom.

„Hallo Grandma!", rief ich, als mir meine Großmutter die Tür öffnete. Wie sonst auch kam Granny mit ihren strahlend grünen Augen, die ich von ihr geerbt hatte und einem Lächeln im Gesicht, das ihre Lachfalten betonte, auf mich zu. Ich liebte den Charakter meiner Großmutter. Jedoch war heute etwas anders. Grannys Lächeln sah so gezwungen aus. Sie trug ihre kurzen, lockigen, Haare, die die Farbe grau hatten wie immer offen, was sehr gut zu ihr passte. Doch ich spürte, dass irgendetwas nicht stimmte. Es war nicht nur das Lächeln. Meine Großmutter war heute wohl sehr traurig und es sah so aus als müsste sie mir etwas beichten. Mit einem komischen Gefühl in meinem Bauch hing ich meine Jacke an dem schwarzen, schnörkeligen Jackenspender auf.

Oft erzählte mir meine Oma alte Geschichten, genau wie heute. Sie winkte mich durch das Zimmer. Erst nachdem ich durch die Tür marschierte, wurde Grandmas Blick ernst: „Eleanor Schätzchen, setz dich erst einmal hin. Ich möchte dir heute eine tragische Geschichte erzählen, die ich dir schon viel länger hätte erzählen sollen. Ich hoffe, du verzeihst mir, dass ich sie dir erst jetzt erzähle.", Granny räusperte sich, „Es war vor ungefähr 40 Jahren. Damals war ich noch sehr jung, leichtsinnig und unerfahren. Gerade hatte ich meinen 31. Geburtstag gefeiert und mein Leben war nahezu perfekt. Eben erst hatte ich deinen Grandpa geheiratet und wir waren sehr vertraut miteinander. Wir wussten noch nicht, dass wir bald unser zweites Kind bekommen würden. Außerdem arbeitete ich als Ballerina im Theater von Sankt Albourn und liebte die Musik und den Tanz. Ja, ich tanzte für mein Leben gern und war sehr bekannt. Doch mein Schicksal hatte etwas dagegen. Am 5. August hatte ich eine große Aufführung und tanzte im Stück Schwanensee die Odette. Ich war sehr stolz und hatte großes Lampenfieber. Alles lief gut. Fast alles. Bei dem Tanz „der sterbende Schwan" stürzte ich. Nur weil Elisabeth Houston, ein kleines Mädchen im Publikum, damals wohl ungefähr zehn Jahre alt, mich retten konnte und früh genug bemerkte, dass ich mich schwer verletzt hatte, kam ich sofort ins Krankenhaus. Was sonst passiert wäre möchte ich mir nicht ausmalen, aber ich könnte mir vorstellen, dass dann du, deine Mutter und deine Tante nicht existieren würden.

Seit diesem Tag an kann ich nicht mehr laufen.

Leider habe ich Elisabeth nie wieder getroffen und so konnte ich mich nie bei ihr bedanken. Ich habe gehört, sie sei bei einem tragischen Unfall verstorben, aber mehr habe ich niemals erfahren. Nun weißt du es Eleanor. Das ist wohl die erste Geschichte, die du von mir kennst, welche kein gutes Ende nimmt", meine Großmutter blickte mit Tränen in den Augen auf ihre Beine, die mit einer Decke eingewickelt waren. Ich schluckte. Grandma hatte mir nie erzählt, warum sie im Rollstuhl saß. Es war still. Unheimlich still. Mir lief eine Träne die Wange hinunter und ich wischte sie schnell weg. Ich zeigte nur ungern meine Emotionen. Schon seit ich ein kleines Mädchen war, war mir das unangenehm. Meine Großmutter bemerkte es glücklicherweise nicht. Sie starrte immer noch auf ihre Beine, als würde sie ihre Lähmung dadurch heilen können. Auch ich warf einen Blick auf Grandmoms Unterkörper. Erinnerungen machten sich in mir breit. Viele Erinnerungen.

Schon seit ich denken konnte war Granny im Rollstuhl. Ich hatte nie darüber nachgedacht, warum sie im Krankenfahrstuhl sitzen könnte. Ich dachte, sie hätte als kleines Mädchen einen Unfall gehabt, denn ich wusste, dass sie nicht immer ein Leben im Rollstuhl durchlebt hatte. Dies hatte mir meine Mutter erzählt.

Auch in den Augen meiner Oma waren Tränen. Wenn ich schon mit den Tränen kämpfen musste, wie stark musste Grandmom dann sein? Schließlich hatte sie es selbst erlebt! Mir steckte ein Kloß im Hals. Ich wusste nicht was ich zu Grandma sagen sollte. Viele Gedanken kreisten durch meinen Kopf. Sollte ich sagen, dass es mir Leid, tat? Oder sollte ich lieber schweigen? Ich entschied mich für das Letztere und immer noch war es leise. Viel zu leise, für meinen Geschmack.

„So!", brach Granny die Stille, „wir sollten langsam Abendessen!" Ich nickte, immer noch geschockt und ging langsam, mit wackelnden Beinen in die Küche. Meine Oma folgte mir benommen. Auch sie war in ihren Erinnerungen vertieft.

A/N

Heyy, das ist das erste Kapitel meines Buches. Ich hoffe es gefällt euch. Ich werde alle vier Tage ein neues Kapitel veröffentlichen und es wird seeeehr spannend. Was haltet ihr von meinem Buch? Schreibt gerne Sachen, die ihr euch anders wünschen würdet.

Mein Schatten und ichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt