Schneegestöber

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(Jenna Pov)

Der Winter hatte in diesem Jahr besonders stark in Bruchtal Einzug gehalten. Mittlerweile wusste ich genau wo ich mich in Mittelerde befand und hatte auch nachvollziehen können welche Strecke mich Tavaro nach Norden geführt hatte. Das Nebelgebirge dabei immer östlich liegen lassend.
Die Gegenwart war mir kein Rätsel mehr. Nur zwei Dinge waren mir schleierhaft. Die Zukunft, auch wenn ich oft das Gefühl hatte als wenn ich wissen müsste was mich erwartet. Kathrin, der ich verzeihen konnte, kam manchmal mit einer ähnlichen Ahnung auf mich zu. Und auch in meiner eigenen Vergangenheit klafften noch einige Lücken. Immer wieder reiste ich in meinen Träumen zurück in meine Kindheit. An sie konnte ich mich erinnern, an all die schönen, unbekümmerten Zeiten mit meiner Mutter und meinem Onkel. Aber sobald ich in den Armen des Elben liege, der mich aus der brennenden Stadt trägt, verschwimmt alles im Nebel. Nur dieses eine Ereignis tauchte immer wieder in meinen Träumen auf, raubte mir den Schlaf und ließ mich schweißgebaded aufschrecken. Die Erinnerung an eine dunkle Zelle, fensterlos und kalt. Ich bin erwachsen, das weiß ich, aber habe keinen Anhaltspunkt wo ich bin und wann genau es ist. Nicht einmal, ob es real ist, weiß ich, doch es fühlt sich derartig echt an, dass ich daran nicht mehr zweifle. Die Folterung, die ich im Schlaf immer wieder erlebte und die Narben auf meinem Rücken. Sie passten perfekt zusammen. Oftmals spürte ich sogar noch den heißen Schmerz, wenn ich wieder einmal das Knallen der Peitsche hörte und mit einem Schrei aufwachte.
Niemand wusste von diesen Träumen, nicht einmal Glorfindel. Auch wenn er mich zu Beginn noch öfters nach dem Ursprung meiner Narben gefragt und ich geantwortet hatte, dass ich es nicht mehr wüsste.

Meine Vergangenheit war ein Rätsel. Ich wusste nicht mehr wer ich wirklich war.

Der dicke Schnee, der in den letzten Tagen Bruchtal überzogen hatte, knirschte unter meinen Stiefeln. Ich wanderte durch die Gärten, die in winterlicher Stille dalagen. In einiger Ferne rauschte der Fluss in die Tiefe, der in vielen abgezweigten kleinen Armen durch Bruchtal floss und in einem großen Wasserfall wieder zusammenfanden. Selbst die kleinen Flussarme waren zugefroren. Schnee soll es hier seit einigen Jahrzehnten nicht mehr gegeben haben und jetzt bedeckte eine ordentliche Schicht der weißen Pracht das verborgene Tal. Dick eingepackt und in einen warmen Mantel gehüllt, hatte ich mich nach draußen gewagt. Die Sonne stand schon tief und war lange hinter den Felsklüften verschwunden. Nur die obersten Ränder der Berghänge leuchteten in einem warmen Orange. Dabei war gerade einmal Nachmittag.

Ich war allein. Nicht einmal Kathrin hatte sich dazu überwinden können mich nach draußen zu begleiten. Zu kalt. Wie alle anderen Elben blieb sie in den Gebäuden und genoss die Wärme, die die Kamine spendeten. Mir war es ganz recht. In den letzten Wochen seit meiner vollständigen Genesung war ich nur noch zurückgezogener und verschlossener. Ich war froh hier bei meinem Onkel zu sein und endlich nicht mehr die Last der Missbillung in der Schule auf meinen Schultern zu spüren. Aber ich vermisste auch meine Eltern. Sehr sogar.
Leise seufzend schlug ich den Weg in den weitläufigen Garten ein. Mein Atem bildete kleine Wölkchen. Im Sommer hatten hier noch viele Blumen geblüht, Schmetterlinge waren durch die Lüfte getanzt und Glorfindel hatte seinen Schülern unterricht im Schwertkampf gegeben.

Ich überquerte gerade einen schmalen Steg, als mich plötzlich eine Ladung Schnee am Kopf traf. Das kühle Nass rutschte an mir herab, rieselte zu Boden oder verfing sich in meinen Haaren und schmolz. Augenblicklich war ich stehen geblieben, verdutzt und überrascht. Ich hatte niemandem im Garten gesehen und auch jetzt als ich langsam den Kopf nach rechts drehte war da keiner, der den Schneeball hatte werfen können. Mein Weg führte mich weiter über den Steg und ich stapfte durch den knirschenden Schnee, bis ein leises Kichern an meine Ohren drang. Meine Vermutung bestätigte sich, als ich unter einer ausladenden Eiche stehen blieb und den Kopf in den Nacken legte.
"Estel!" Dort oben in einer Astgabel hockte der Ziehsohn Elrond und grinste mir frech entgegen. Für einen Zehnjährigen hatte er noch unglaublich viele Flausen im Kopf. Besonders wenn Elladan und Elrohir mit von der Partie waren. Doch von den Zwillingen gab es dieses Mal keine Spur.
"Machst du wieder Jagd auf unschuldige Spaziergänger?", erkundigte ich mich und schüttelte neuen Schnee aus meinen Haaren, der auf mich herabrieselte.
"Du bist die erste, die seit Stunden in reichbarer Nähe war", beklagte er sich und hangelte sich weitere Äste nach unten.
"Langweilig also?"
"Sterbenslangweilig!", kam grummelnd von dem braunhaarigen Menschenjungen. Mit Leichtigkeit sprang er von einem der unteren Äste neben mir in den Schnee. Ein freches Grinsen zierte noch immer sein Gesicht.
"Elladan und Elrohir sind seit Tagen nicht da. Eine Patrouille an den Grenzen. Herr Glorfindel ist auch bei ihnen nicht?" Ich nickte, sodass er nur theatralisch seufzte. Den Blick zu Boden gerichtet trat er immer wieder den Schnee, schob ihn hin und her, bis sogar der gelbe Rasen zum Vorschein kam.
"Adar hat mir nicht erlaubt mitzugehen. Zu gefährlich sagt er. Dabei meint Herr Glorfindel immer, dass ich gute Fortschritte mache."
"Es ist gefährlich draußen, Estel. Besonders für einen Jungen wie dich", erwiderte ich leise. Estel hob den Blick, hielt inne mit seinem Schnee schieben und seine Augen weiteten sich plötzlich.
"Stimmt du warst ja dort und wurdest verletzt. Tut mir Leid, Almariel." Neben Elrond war er der einzige, der mich bei meinem elbischen Namen nannte. Ich hatte es ihm nicht abgewöhnen können und so ließ ich ihn. Der Junge war mir schnell ans Herz gewachsen. Er war so viel lockerer als alle anderen Elben. Neben Elrohir, Kathrin und meinem Onkel war er der einzige mit dem ich wirklich oft zusammen war. Alle anderen mied ich.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Aug 05, 2021 ⏰

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