Der Weg

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Wenn ich morgens aus dem Haus gehe, dann ist das immer so eine Art Abenteuer. Hochkonzentriert packe ich meine Sachen in die Schultasche, Etui, Wasserfarben und natürlich das Pausenbrot das mir meine Mutter immer mit viel Liebe zubereitet. Es ist 6.30 Uhr und ich liege noch gut in der Zeit. Zeit ist wie ein Motor der mich antreibt, sie gibt mir Orientierung aber peitscht mich auch unermüdlich voran, setzt mich unter Druck trotzdem ist sie eine Konstante die ich nicht missen kann. Ich beiße kurz in eine Banane und eile in den Flur.

"Vergiss nicht das du nachher noch zum Zahnarzt musst", ruft mir meine Mutter noch hinterher, doch ich bin bereits dabei den nächsten Punkt auf meiner imaginären Liste die einzig in meinem Kopfexistiert abzustreichen. Schuhe? Check! Mütze? Check! Jacke? Liegt bereits neben der Tür. Perfekt. 6.32 Uhr. Ich spüre es wird ein guter Tag.

Ich verlasse das Haus und beginne wie jeden Morgen mit meiner "Arbeit" Es sind 34 Fliesen bis zur Gartentür und jede muss von mir berührt werden. Das ist anstrengend aber notwendig damit ich mich sicher fühle. Und ja für mich ist es in gewisser Weise ein Abenteuer den in den 5 Jahren in denen ich nun schon unsere Fliesen vor dem Haus berühre, habe ich es mir zur Aufgabe gemacht die Zeit zu stoppen. Läuft der Tag gut brauche ich 2 Minuten und 34 Sekunden. Läuft der Tag schlecht kann das ganze schon mal ein wenig länger dauern, was dann meist zur Folge hat das ich meinen Schulbusverpasse, sehr zum Ärger meiner Mutter die mich dann wieder mit dem Bus zur Schule bringen muss.

Dann darf ich mir wieder anhören das es so nicht weitergehen kann, das auch sie zur Arbeit muss, das wir vielleicht noch einmal mit dem Therapeuten darüber reden müssen wie wir das unterbinden können. Und der verschreibt einem dann wieder Tabletten die einen müde machen. Warum versteht sie nicht das ich es nicht unterbinden will? Es gehört für mich einfach dazu, das bin ich und in meiner Welt ist es ok das etwas eventuell etwas länger dauert. Sowieso ist alles viel zu schnell und verwirrend? Immer werden mir zeitliche Begrenzungen gesetzt an die ich mich halten muss. Schnelllebigkeit ist ein existenzieller Bestandteil der Menschen geworden. Warum kann ich nicht einfach in meinem Zwang, zwanglos sein?

Warum muss immer alles sorgenvoll sein wenn etwas nicht funktioniert? Manchmal weint Mama viel weil sie nicht mehr weiß was sie mit mir machen soll. Dann gehe ich zu ihr und sie drückt mich und sagt mir das sie mich liebt. Manchmal weine ich dann auch, weil ich weiß das Mama auch gerne zwanglos wäre, sie es aber nicht kann weil sie zu viel Angst hat etwas falsch zu machen.

Ich atme tief durch und sage mir wie jeden Morgen das ich dieses Abenteuer bestehen werde, für meine Mama damit sie nicht so viel Sorgen hat und beruhigt sein kann das alles gut geht. Und dann beginne ich und lächle ein wenig dabei den ich bin mir sicher das heute ein guter Tag ist und das Mama trotz aller Sorgen stolz auf mich sein kann.



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⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 23, 2021 ⏰

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