Ankunft im Himmelreich

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Kapitel 1 | Yumi

- Ankunft im Himmelreich -

Der Himmel … wie mochte er wohl sein? Ein Schloss hoch in den Wolken? Wo die Engel backen, wenn die Morgen- und Abendröte erscheint? Da wo die Nebelschleier sind, alles weiß und rein?

So dürfte ich auch einmal gedacht haben, als ich noch ein Mensch gewesen war, doch diese Zeit schien vorüber. Keine drei Tage waren auf der Erde vergangen, seit ich als Engel erwacht, aus einer Schale geschlüpft und in saphirblauen Augen die Göttlichkeit erkannt hatte, die sprach: »Gott hat geheilt.« 

Als ich von dieser kristallartigen Iris in die eines anderen geschaut hatte, vernahm ich deutlich die Worte »Mein Licht ist Gott« und verstand, dass auch mein Licht Gott sein würde – und das schon sehr bald. Der Wer ist wie Gott schien meinem Erscheinen nicht viel Aufmerksamkeit zu schenken. Ich hatte noch nicht geahnt, wer diese Wesen sein mochten, bis vor mir diese himmelblauen Augen auftauchten, deren Blick ich nicht entfliehen konnte. Seine warme Hand hatte mir aufgeholfen und mit einem Lächeln auf den Lippen hatte er gesagt: »Meine Stärke ist Gott.« Und ich verstand, dass auch meine Stärke Gott sein würde. Daraufhin hatte ich seine Schwingen erblicken dürfen, so weiß und rein. Sie zierten seinen Rücken, wirkten äußerst mächtig und … es waren mehr als ein Paar.

In Gedanken an meine Ankunft versunken saß ich nun auf einer dieser Wolken, die einen Schatten auf die Erde warf. Ich beobachtete das bunte Treiben dort unten. Die Menschen, die sich jeden Tag aufs Neue durch ihr Leben quälten, sich von der Zeit manipulieren ließen und gleichzeitig versuchten, so viele Tätigkeiten in den Zeitraum eines Tages zu pressen, wie es nur ging.

Seufzend lehnte ich mich zurück in das weiche Weiß und sah in den blauen Himmel über mir. Ich konnte mich nicht an mein früheres Menschenleben erinnern. In dem Moment, als ich mich fragte, ob das nicht auch besser so war, nahm ich eine beruhigende Präsenz neben mir wahr. Ich wandte mich ihm zu und lächelte. Und er tat es mir gleich.

»Genießt du die Aussicht, Yumi?«, erkundigte er sich und ich erinnerte mich zurück an die Stunde, in der sie mir diesen Namen gegeben hatten. Sie sagten, es wäre ihnen im Traum vorhergesagt worden, dass ich den Himmel betreten würde und so hatten sie auf mich gewartet. Lange Zeit wäre kein neuer Engel ins Himmelreich gekommen und so schienen sich einige sehr auf meine Ankunft gefreut zu haben. Yumi … bedeutete Traum. Ich fragte mich, ob ich in meinem früheren Leben ebenfalls so geheißen hatte. Ob meine Eltern in mir auch einen Traum gesehen und mich nach ihm benannt haben mochten?

Er strich mir eine Strähne aus dem Gesicht und holte mich sanft aus meiner Gedankenwelt zurück. Daraufhin hielt er mir seine Hand entgegen und ich ließ mir verlegen aufhelfen.

»Yumi. Es ist noch ein weiter Weg, ein vollwertiger Engel zu werden«, sagte er, daran erinnernd, welche Aufgabe mir zuteilgeworden war. Sie hatten mich in die Ausbildung zum Engel geschickt und ich durfte nach und nach die verschiedenen Pflichten kennenlernen. Wenn ich gerade so darüber nachdachte, war mir bisher kein Engel außer den Vieren begegnet. Dabei war ich doch im Himmel, oder? Wo sollten sie sich aufhalten, wenn nicht hier?

»Gabriel.  Wo sind all die anderen Engel? Leben sie denn nicht im Himmel?«

Nur einen Augenblick lang zeigte sich ein trauriger Ausdruck auf seinem Gesicht, ehe er sich in ein sanftes Lächeln wandelte: »Sie sind bei der Arbeit. Und sie freuen sich, bald von dir unterstützt zu werden.«

Ich war mir nicht mehr sicher, ob ich mir diesen verzweifelten Gesichtsausdruck nur eingebildet hatte. Seine Stimme schien wie immer - freundlich und ruhig.

»Komm, Yumi. Ich will dich zu deiner ersten Aufgabe begleiten. Du sollst lernen, woher die Morgen- und Abendröte wirklich kommt.«

Ich nickte und folgte ihm schweigend. Würde ich nun die Bäckerei der Engel kennenlernen, die für Weihnachten die Plätzchen backten? Oder war das nur wieder ein Märchen der Menschen, das sich um den Himmel und seine Farben rankte? 

***

Es dauerte ein wenig, ehe es Abend auf der Erde wurde und die Abendröte über den Horizont zog. Während die Dunkelheit das Himmelreich zu ergreifen versuchte, um die Nacht einzuläuten, erblickte ich direkt vor uns ein tiefes Loch im Wolkenboden, das bedrohlich glühte.

»Dies, Yumi, ist der persönliche Eingang Luzifers hinab ins Höllenreich.«

Ich spürte, wie eine brennende Hitze durch die Wolkenschichten zog und sie rot entflammt zeichnete. Ein donnerndes Grollen stieg aus seinem Innern zu uns hinauf und ein beklemmendes Gefühl zog meine Lungen zusammen. Wieso besaß dieser gefallene Engel einen eigenen Zugang in den Himmel?

»Dein erster Auftrag besteht darin, dieses Tor zwei Tage lang zu bewachen. Es darf niemand hinein und hinaus, ohne die Einwilligung eines Erzengels oder die persönliche Ermächtigung Gottes«, sagte er, als handelte es sich dabei um eine der üblichsten Aufgaben, und wandte sich zum Gehen. Kein Engel in Sicht, den ich unterstützen, ablösen oder um Rat fragen hätte können. Was sollte ich tun, wenn wirklich jemand durch dieses Tor schreiten würde?

Eine unergründliche Angst durchfuhr meine Glieder, nicht alleine an diesem Ort bleiben zu wollen. Mein Körper reagierte wie von selbst. Und so griffen meine Finger nach seiner weißen Robe und hielten sie zitternd fest. Gabriel drehte sich um und sah meine Tränen, die unaufhaltsam und still über mein Gesicht liefen. Er legte sanft seine Hand an meine Wange und strich sie hinfort. 

»Meeresblau. Solche kristallklaren Augen können wahrlich nur Engel besitzen«, flüsterte er und ich bemerkte für den Bruchteil eines Augenblicks diesen untröstlichen Gesichtsausdruck. »Vielleicht«, sagte er und griff nach meinem Handgelenk, »ist dieser Auftrag verfrüht. Ich werde dich stattdessen zu Amor schicken. Du sollst lernen, was Liebe ist, und sie den Menschen schenken. Würde dir diese Aufgabe gefallen, Yumi?«

Ich nickte heftig. Gabriel entließ meine Hand, lief voraus, und als ich ihm folgen durfte, spürte ich mehr und mehr, je weiter ich mich von dem Höllentor entfernte, eine große Erleichterung. Meine Angst schwand. Was hatte mich nur so in Panik versetzt?

Auch Engel dürfen träumenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt