Nach der Umarmung waren Sarah und die Frau gegangen. Nur Julia war da geblieben. Sie hatte mir erklärt, dass sie noch eine Weile bleiben würde, um nach mir zu sehen und dafür zu sorgen, dass es mir gutging. Ich wusste nicht so ganz, ob ich ihr glauben konnte. Vielleicht wollte sie mich ja auch bestrafen? Ich hatte so viele Fehler gemacht. Ich hatte mich selbst verletzt, obwohl sie es mir verboten hatten.
Unbehaglich schielte ich zu der Frau hinüber. Sie saß bei der großen gelben Lampe auf einem Stuhl und hatte ein Buch in der Hand. Sie konnte jederzeit aufstehen, um mich zu schlagen und zu foltern. Das machte mir Angst.
Ich zwang mich, wegzusehen und sah angestrengt zur Decke. Julia hatte gesagt, ich solle versuchen zu schlafen. Doch ich konnte nicht schlafen, solange sie hier war. Ihre Anwesenheit beunruhigte mich. Ich durfte sie nicht anstarren, aber ich musste jederzeit bereit sein, wenn sie beschloss, mich zu bestrafen. Also starrte ich zur Decke. So konnte ich aus dem Augenwinkel jede ihrer Bewegungen wahrnehmen, sodass sie mich wenigstens nicht unvorbereitet treffen würde. Wehren konnte und durfte ich mich nicht. Ich hatte die Strafe verdient. Ich war ungehorsam gewesen. Sie würde mir Gehorsam lehren wollen.
Leise atmete ich ein und aus. Mit der Zeit wanderten meine Gedanken zurück zu dem kleinen Menschen Sarah. Sie hatte mich geküsst. Aber anders, als Vater es tat. Noch nie hatte ich so einen zärtlichen Kuss gespürt. Vaters Küsse waren gierig und grob. Aber Sarahs Lippen hatten meine Wange nur für eine Sekunde berührt. Und dann... dann hatte sie sich auf mich gelegt.
Im ersten Moment war ich vor Entsetzen erstarrt. Wenn Vater sich auf mich legte, wollte er Sex. Und dazu war ich gerade körperlich kaum in der Lage. Ich hatte so viele Schmerzen, ich wusste nicht, ob ich jetzt einen anderen Menschen befriedigen konnte.
Aber Sarah hatte die Decke nicht von mir weggezogen. Sie hatte mich nicht nackt gemacht. Sie war auf der Decke liegen geblieben und hatte mich einfach nur umarmt. Und... sie hatte gesagt, sie sei wie ich. Ein Kind wie ich, nur ein bisschen kleiner. Deshalb fragte ich mich, ob sie vielleicht meinen Schutz gesucht hatte. Vielleicht hatte sie sich deshalb zu mir gelegt. Sie war wie ich, aber sie war ungehorsam gewesen. Sie hatte der Frau mit dem Namen Mama widersprochen. Hatte sie womöglich auch Angst vor ihr?
Vielleicht sollte ich Sarah die Regeln beibringen. Sie hatte selbst gesagt, dass sie noch kleiner war als ich und ebenso wie ich nicht alles verstand. Und offenbar konnte sie sich noch nicht einmal an die Regeln halten. Vielleicht sollte ich sie ihr erklären. Vielleicht brauchte sie mich, so wie ich Lilly brauchte. Hatte Sarah womöglich niemanden, der sie an die Regeln erinnern konnte? Ich schaffte es zwar selbst nicht immer, gehorsam zu sein, aber ich glaubte, ich konnte es besser als sie.
Ja, sie brauchte meine Hilfe. Anders konnte ich mir nicht erklären, dass sie sich plötzlich an mich geklammert hatte. Aus diesem Grund hatte mir die Umarmung nach dem ersten Moment auch keine Angst mehr gemacht. Ich würde versuchen, für die kleine Sarah da zu sein, so wie Lilly für mich da war. Morgen würde ich –
Voller Entsetzen erstarrte ich. Da war eine Bewegung in meinem Sichtfeld gewesen! Sofort schnellte mein Blick zu Julia.
„Hey Emily, keine Sorge. Ich hab nur mein Buch weggelegt. Wie ich sehe, kannst du nicht schlafen?"
Sie war mit der Stimme nach oben gegangen. Eine Frage. Also musste ich antworten. Sachte nickte ich.
Julia seufzte leise. „Liegt es an mir? Hast du Angst, ich könnte dir etwas tun?"
Wieder eine Frage und wieder musste ich antworten. Meine Antwort war ein erneutes Nicken. Ich hatte große Angst davor, dass sie mir wehtun würde. Sie hatte es zwar bisher nie getan, aber warum sonst wollte sie hier bei mir bleiben?
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Lost Girl
Mystery / ThrillerEin Mädchen. Gefunden im Wald. Verletzt und gefesselt. Wer ist sie? Woher kommt sie? Wieso spricht sie kein Wort? Und warum scheint sie vor allem und jedem panische Angst zu haben? ------------------------------------------------- Triggerwarnung:...