Kapitel 31

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MELANY

❝ Lieber Azriel,

Natürlich ist der Tageshof für seine wunderschönen Tage bekannt. Aber wenn ich ehrlich sein soll, hätte ich nie damit gerechnet, was für eine Augenweide es tatsächlich sein würde.

Versteh mich nicht falsch, ich liebe Velaris und ich liebe unseren Nachthof. Aber Helions Hof bei Tag - die Sonne, das Licht, die Harmonie. All der Friede, den ich damals in der Nacht gefunden hatte, gibt es wohl auch am Tage. Und ich kann dir nicht sagen, wie wundervoll es ist, Licht und Wärme auf der Haut zu spüren.

Doch eines gibt es, was der Tageshof nicht hat im Gegenzug zum Nachthof. Dich.

Kein Tag vergeht, an dem ich nicht an dich denke. Kein Lachen verlässt meine Lippen ohne dass ich dabei an all die Situationen denken muss, in denen du mich zum Lachen gebracht hast. Ich spüre unsere Seelenverbindung in den unterschiedlichsten Momenten. Ich vermisse dich so unglaublich, dass die bloße Erinnerung an dich schon wehtut. Und ich weiß, dass ich eigentlich froh darüber sein sollte, hier Antworten auf meine Fragen zu bekommen. Versteh mich nicht falsch, das tue ich auch! Aber nichtsdestotrotz sehnt sich meine Seele nach seinem Gefährten. Mein Herz nach seinem Gegenstück. Ich sehne mich nach dir.

Helion ist ganz genau so, wie ihr ihn mir beschrieben habt. Er ist freundlich, zuvorkommend und geradezu ein Musterbeispiel für Gastfreundschaft. Aber neuerdings sehe ich auch andere Seiten an ihm. Er kann tatsächlich verspielt und lustig sein; er bringt mich zum Lachen, wie als wären wir alte Freunde. Er erzählt oft von euch, vor allem von Rhysand und Mor. Es ist, wie als wäre ich bei einem alten Bekannten. Er gibt weder mir noch Nova das Gefühl, als seien wir bloß Gäste. Wir fühlen uns rundum Wohl. Ich kann mir gut vorstellen, auch nach meiner Abreise vom Tageshof die Freundschaft zu ihm zu pflegen.

Manchmal muss ich über solche Gedanken schmunzeln. Während ich früher bloß eine Belastung für meine eigene Familie war, nur Fae sehen durfte, die man zu mir ließ oder nach denen ich geschickt wurde, bin ich nun mit zwei High Lords befreundet. Ich kann manchmal immer noch nicht fassen, wie sich das Schicksal zum Besseren gewendet hat. Wie ich endlich Glück in der Dunkelheit finden konnte, wo früher nur Leid und Einsamkeit war. Wie mein Seelengefährte das genaue Gegenteil zu meinem Licht ist, mir aber keine Angst macht. Deine Dunkelheit, Azriel, hat mir gezeigt, dass nicht sie selbst böse ist, sondern die Personen, die es zu etwas Schlechtem machen.

Helion wollte mich in die unterirdische Bibliothek mitnehmen. Er sagte, dort seien wichtige Aufzeichnungen, die uns bei unserer Recherche helfen könnten. Und dass es Berichte gibt, die ich mir anschauen sollte um festzustellen, ob meine Magie denen aus den Protokollen ähnelt. Ich habe es wirklich versucht. Ich habe mich bis zu den Treppenstufen getraut, doch sobald ich einen Blick in die Höhle geworfen hatte, konnte ich es nicht.

Ich habe mich so unglaublich geschämt. Natürlich hat Helion mit Verwunderung reagiert und ich dachte schon, ich müsse ihm alles erzählen. Ihm erklären, wieso ich nicht in die Höhle hinunter kann. Aber er hat bloß genickt und mich dann auf die Dachterrasse geführt, von wo aus ich über das halbe Königreich schauen konnte. Er hat mich zu nichts gezwungen. Du kannst dir meine Erleichterung bestimmt vorstellen. Dennoch hat es eine ganze Weile gedauert, bis mein Zittern aufgehört hat. Er ist so lange nicht von meiner Seite gewichen, bis meine Magie sich wieder beruhigt hatte. Ich hatte nicht gemerkt, welch ein Licht sich unkontrollierbar von meiner Haut gelöst hatte und in alle Richtungen schoss.

So etwas war bisher noch nie passiert. Meine Magie kapselte sich normalerweise ab, wenn ich Panik oder Angst hatte. Doch nun war es fast so, wie als würde sie dadurch versuchen, mich zu beschützen. Mich den Gefahren zu entziehen.

Es muss an dem täglichen Training liegen. Seit meinem ersten Tag am Tageshof trainiert Helion mehrere Stunden mit mir. Ich weiß nicht, wie er so viel Zeit für mich erübrigen kann, aber ich bin ihm unendlich dankbar dafür.

Es gibt einen speziellen Ort an diesem Hof, an den er mich gebracht hat. Es ist der schönste Garten, den ich je gesehen habe. Laut Helion ist abgesehen von ihm und mir kein anderer in diesem Garten willkommen. Du kannst dir meine Überraschung sicherlich vorstellen. Doch um ihm meinen Dank zu zeigen, kümmere ich mich um die Pflanzen immer dann, wenn er keine Zeit dafür findet. Die ohnehin wunderschönen roten und flammenden Blumen, Bäume und Sträucher sind seit der intensiven Pflege noch hübscher geworden. Helion hat mich im Gegenzug mit einigen Samen bei mir bedankt, die ich Elain mitbringen werde. Sie wird sich sicherlich darüber freuen.

Jedenfalls: Der Garten scheint eine Art Verstärker zu sein. Ich spüre, wie meine Magie auf die Energie reagiert, die darin schwingt. Wenn wir uns bald wieder sehen, muss ich dir vorführen, was ich meine. Es ist kaum in Worte zu fassen. Es ist vielmehr ein Gefühl. Ein Instinkt. Etwas, was in mir zu schlummern scheint. Ich fühle, wie ich es langsam zu Greifen bekomme. Alles in mir verzehrt sich nach dieser Magie und ich fühle mich, wie als würde ich immer mehr zu mir selbst werden, je mehr ich sie benutze. 

Ich hoffe, dass es euch allen gut geht. Ich vermisse Nesta, Feyre und Elain so sehr. Ich habe hier kaum jemanden kennenlernen dürfen. Ich verstehe die Gründe dahinter, aber in den Momente, wo weder Helion noch Nova da sind, fühle ich mich sehr einsam. Ich hoffe, dass du dich nicht zu sehr von allen abgekoppelt hast. Ich weiß, dass du dazu neigst, deine Distanz zu wahren. Aber ich bitte dich Az, nicht zu allein zu sein. Deine Freunde machen sich sicherlich genauso Sorgen, wie ich es täte. Wie ich es tue.

Mir sind zudem Gerüchte zu Ohren gekommen. Es wird im ganzen Palast darüber geredet, dass sich ein Hexer auf den Inseln zwischen unseren Reichen aufhalte. Ich bin mir nicht sicher, aber es klingt sehr nach der Geschichte, die damals mit dir passiert ist. Ich sorge mich um euch. Falls euch etwas auffallen sollte, bitte ich euch, vorsichtig zu sein. Selbst Helion ist öfter in Gedanken und ständig bei irgendwelchen Versammlungen. Es scheint ziemliche Unruhen im Königreich auszulösen. Ich kann mir gut vorstellen, dass es bald in ganz Prythian zu Aufruhen kommen wird. Vielleicht wäre es besser, wenn Rhysand von den Vorfällen an Calanmai erzählt. Damals, als du gefunden wurdest. Ich weiß, welches Licht das auf unseren Hof werfen könnte, aber den Erzählungen nach zu urteilen, kann dieser Hexer eine große Gefahr darstellen.

Ich freue mich bereits auf deinen Brief, mein Lieber. Ich denke jede Minute an dich und taste regelmäßig nach unserer Verbindung.

Pass auf dich auf und verirr dich nicht in die Dunkelheit.

Mit all der Liebe, die ich empfinden kann,
deine Melany. ❞

Der Ruf des SchattensängersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt